Reiseapotheke

Ein Antibiotikum für alle Fälle?

Mag. pharm. Dr. Angelika Chlud
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Univ.-Doz. Dr. Ursula Hollenstein merkt an, dass es keine generelle Empfehlung für ein Breitbandantibiotikum gibt. © Martina Siebenhandl
Univ.-Doz. Dr. Ursula Hollenstein merkt an, dass es keine generelle Empfehlung für ein Breitbandantibiotikum gibt. © Martina Siebenhandl

Interview: Mag. Pharm. Dr. Angelika Chlud

Tropenmedizinerin Univ.-Doz. Dr. Ursula Hollenstein von Traveldoc – Reisemedizinisches Zentrum, Wien sprach im Interview mit der ÖAZ über die Problematik der antibiotischen Selbstbehandlung, über die Gefahr von gefälschten Medikamenten und Antibiotikaresistenzen.

ÖAZ Es kann vorkommen, dass Kundinnen bzw. Kunden in Apotheken nach einem Notfall-Antibiotikum für ihre Reiseapotheke fragen. Wie sollen Apotheker:innen angemessen auf diesen Kundenwunsch reagieren?
Univ.-Doz. Dr. Ursula Hollenstein Die erste Rückfrage sollte sein: Wofür möchten Sie es denn mitnehmen? Was wollen Sie behandeln? Ich sehe die Mitnahme von Antibiotika durchaus kritisch, da die Ursache von Beschwerden ja selten völlig klar ist. Viele Erkrankungen im Urlaub, vor allem im Bereich der Atemwege, sind viral bedingt, hier sind Antibiotika völlig nutzlos.
Lediglich der Reisedurchfall ist zumeist eine bakterielle Erkrankung und damit einer Antibiotika-Behandlung prinzipiell zugänglich. Bei diesen sehr häufigen, aber fast immer harmlosen Symptomen sind aber die möglichen Nebenwirkungen einer Antibiotikatherapie besonders hervorzuheben. Auch Folgekrankheiten wie der Antibiotika-assoziierte Durchfall sind zu bedenken. Bei den allermeisten Reisenden sollte der Reisedurchfall rein symptomatisch therapiert werden. Wenn unbedingt ein Antibiotikum gewünscht wird, wird derzeit das nicht-resorbierbare Rifaximin bevorzugt. Antibiotika wie Chinolone oder Makrolide sind Sondersituationen vorbehalten, wie Langzeitreisen in sehr abgelegenen Gebieten ohne Möglichkeit einer ärztlichen Versorgung. Von der strengen Restriktion ausgenommen ist die Behandlung von eindeutig zuordenbaren Erkrankungen: Frauen mit häufig rezidivierenden Blasenentzündungen zum Beispiel sollen natürlich mit einem Antibiotikum zur Selbstbehandlung versorgt sein.

ÖAZ Ist es in bestimmten Fällen immer gerechtfertigt, Antibiotika für Personen mit bestimmten Vorerkrankungen oder Anfälligkeiten mit auf Reisen zu nehmen?
Hollenstein Chronisch-rezidivierende Harnwegsinfekte habe ich schon erwähnt. Auch häufige vaginale Pilzinfektionen können die Mitnahme eines antifungalen Medikaments rechtfertigen.
Personen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen sollten Durchfälle rasch kupieren können, um das Risiko eines Schubs der Grunderkrankung zu verringern, hier ist die Mitnahme eines Antibiotikums sicher sinnvoll. Auch Menschen mit schwerer COPD oder häufig exazerbierender chronischer Bronchitis sollten – falls das Reiseland keine medizinische Versorgung bietet – ein Antibiotikum mitführen.

ÖAZ Wann soll eine Reisediarrhoe antibiotisch behandelt werden?
Hollenstein Reisediarrhoen sind überwiegend bakteriell verursacht. Da sie in fast allen Fällen selbstlimitierend und harmlos, wenn auch sehr lästig sind, ist der Anspruch an eine Therapie vor allem: nicht schaden. Fast immer ist eine symptomatische Behandlung ausreichend. Allerdings kann mit einem nicht-resorbierbaren Antibiotikum die Dauer der Symptome verkürzt werden.
Systemisch wirksame Antibiotika werden in dieser Indikation zunehmend kritisch gesehen. Da wir von einer sehr häufigen Gesundheitsstörung auf Reisen sprechen, treten bei breiter Behandlung auch seltene Nebenwirkungen vermehrt auf. Neben den „normalen“ Nebenwirkungen darf auch die Gefahr einer antibiotika-assoziierten Colitis durch Clostridien nicht übersehen werden. Diese Infektion hat durchaus das Potenzial für einen tödlichen Verlauf. Die invasive Diarrhoe, die eine Antibiotikatherapie tatsächlich braucht – das wäre vor allem die bakterielle Ruhr – zeichnet sich zumeist durch Fieber und blutige 
Stühle aus.

ReiseDiarrhoe
Häufige Krankheitserreger

E. coli
In ca. 80 % der Fälle wird der Durchfall durch bakterielle Erreger verursacht, zu 50–60 % sind enteropathogene E. coli (EPEC) wie enterotoxinprodizierende E. coli (ETEC) und enteroaggregative E. coli (EAEC) 
verantwortlich.

Invasive Bakterielle Erreger
Weitere Auslöser sind Shigellen, Salmonellen und Campylobacter sowie weitere Bakterien.

Toxine
Möglich ist auch Vergiftung durch Toxine, welche in den Lebensmitteln von den Bakterien gebildet wurden (z. B. Staphylococcus aureus, Bacillus cereus, Clostridium perfringens).

Sonstige
Weitere, nicht bakterielle Erreger sind Protozoen (Giardia lamblia, Entamoeba histolytica, Cryptosporidium) und Viren (Rotavirus, Noroviren). Auch Mischinfektionen sind möglich.



ÖAZ Müssen bei der Wahl eines Antibiotikums eventuell vorhandene Resistenzen in bestimmten Gebieten berücksichtigt werden?
Hollenstein Rifaximin wirkt zumindest derzeit noch überall gut. Chinolone hingegen haben vor allem in Süd- und Südostasien bei Campylobacter massive Resistenzen und können dort nicht mehr als First-line-Medikamente eingesetzt werden.

ÖAZ Kann man eine generelle Empfehlung für ein Breitbandantibiotikum geben? 
Hollenstein Nein, es gibt keine generelle Empfehlung, da es primär auf den Symptomkomplex ankommt, den man behandelt. Durchfallerkrankungen, Lungeninfektionen, Hautinfektionen – sie können nicht alle mit einem Generalpräparat behandelt werden. Bei Diarrhoe eignen sich Rifaximin bzw. Makrolide. Bei Infektionen der Atemwege sind Makrolide die erste Wahl und bei Hautinfektionen Penicilline bzw. die alten Cephalosporine. Ciprofloxacin, bzw. Chinolone generell sind sowohl aufgrund der globalen Resistenzzunahme als auch aufgrund des Nebenwirkungsprofils dezidiert keine breit einzusetzenden Arzneimittel zur Selbstbehandlung.

ÖAZ Ist es sinnvoll, in Länder mit hohem medizinischen Standard vorsorglich Antibiotika mitzunehmen? Oder sollte dies Reisen in Länder mit niedrigen medizinischen Standards bzw. Individualreisenden vorbehalten bleiben?
Hollenstein Bei hohem medizinischem Standard ist die Behandlung in einem Krankenhaus vor Ort mit hoher Wahrscheinlichkeit sinnvoller als eine Selbstdiagnose und -therapie. Je unklarer der Standard von Krankenhäusern ist, je weiter die Wege zu einer guten Versorgung, desto eher ist eine Reiseapotheke, die eine gewissen Selbstbehandlung ermöglicht, wichtig. Mindestens so wichtig wie die Bestückung mit Medikamenten ist aber die Einschulung der Reisenden auf die Verwendung der Präparate: Wann, bei welchen Symptomen, ist welches Präparat sinnvoll? Was sind Warnzeichen, bei denen man auf jeden Fall ärztliche Hilfe suchen muss?

ÖAZ Was sind die drei häufigsten Infektionskrankheiten, die auf Reisen auftreten und die eine Behandlung mit Antibiotika erfordern?
Hollenstein Dazu zählen an erster Stelle schwerer fieberhafter und/oder blutiger Durchfall und Typhus als Sonderfall einer Darminfektion, der aber keine klassischen Durchfallsymptome hervorruft. Infizierte Wunden, Abszesse oder Phlegmone sind weitere Erkrankungen, die eine Antibiose erforderlich machen.

ÖAZ Arzneimittelfälschungen sind ein großes Problem. Sehen Sie die Gefahr, im Urlaubsland eventuell eine Arzneimittelfälschung zu bekommen?
Hollenstein Fälschungen sind nach wie vor eine große Gefahr. Dies betrifft zwar nicht die Behandlung in Spitälern, sehr wohl aber Medikamente, die man in fragwürdigen Geschäften oder gar von fliegenden Händlern angeboten bekommt. Insbesondere bei Malariamedikamenten kann das lebensgefährlich sein.

ÖAZ Vielen Dank für das Gespräch!

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