Im Gehirn kann das Entfernen von zu viel Gewebe zentrale Funktionen wie Sprechen oder Bewegen stark beeinträchtigen. Wiener Neurochirurgen forschen seit kurzem an einer digitalen Gewebebestimmung, die durch Künstliche Intelligenz (KI) unterstützt wird. Diese Technologie ermöglicht Einschätzungen während der Operation innerhalb weniger Minuten.
Auf das System kann direkt im Operationssaal zugegriffen und entnommene Gewebeproben analysiert werden. "Mit der bisher üblichen Methode muss die Probe vom OP-Saal auf die Neuropathologie transportiert werden, wo händisch Gewebeschnitte angefertigt, gefärbt und analysiert wurden. Das dauert im internationalen Schnitt ungefähr eine halbe Stunde", so Georg Widhalm von der Universitätsklinik fuhr Neurochirurgie der Medizinischen Universität und des AKH Wien. "Mit dieser neuartigen Technik ist innerhalb von wenigen Minuten ein digitaler Gewebeschnitt verfügbar, der anschließend virtuell von den Neuropathologinnen und Neuropathologen befundet werden kann", sagte Lisa Körner, die ebenfalls auf der von Karl Rössler geleiteten Uniklinik arbeitet, im Gespräch mit der APA.
Dort wird auch an einem KI-System geforscht, das eine erste Einschätzung liefert, ob es sich um Tumorgewebe oder bereits um gesundes Gehirngewebe handelt. Dieses System wird unter anderem von Forschern um Todd Hollon von der University of Michigan (USA) entwickelt. Mithilfe von maschinellen Lernmethoden werden diese Systeme darauf trainiert, selbstständig wichtige Tumorcharakteristika mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erkennen. Je mehr qualitativ hochwertige Daten, kombiniert mit den bisher gängigen Methoden, zur Verfügung stehen, desto treffsicherer werden diese Systeme in Zukunft sein.
Am Freitag wird Hollon Gastredner bei einem Symposium mit dem Titel "Digitalisierung und neue KI-Technologien in den Neurowissenschaften" sein, das an der Meduni stattfinden wird. Die Wiener Gruppe war eine der ersten in Europa, die mit dem digitalen Histologie-KI-System forschte, berichten Körner und Widhalm. Seit dem Jahr 2020 hat das Team bereits rund 500 Operationen mit KI-Histopathologie-Einsatz im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt. Sie arbeiten eng mit der von Romana Höftberger geleiteten Abteilung für Neuropathologie und Neurochemie zusammen, um diese Technologie weiterzuentwickeln.
Diese KI-Methoden können aber lediglich die Befundung unterstützen. Die Letztentscheidung darüber, womit man es zu tun hat, obliege weiter den menschlichen Experten, betonten die Mediziner. Man nutzt die maschinelle Einschätzung und Einordnung als "Add-on und Hilfe", um den Status im Laufe der Operation möglichst exakt und schnell einschätzen zu können.
Es ist naheliegend, dass der Ansatz gerade in der Neurochirurgie vorangetrieben wird. So unterschiedet man heute nämlich rund 120 verschiedene Hirntumor-Arten. Hinzu kommt, dass die Tumorgrenze, insbesondere bei Tumoren, die im Gehirn selbst entstehen, oft schwer zu erkennen ist. Im Gehirn kann man sich in der Regel keinen Sicherheitsabstand erlauben, da die Kollateralschäden schnell erheblich sein können, wenn beispielsweise kognitive Fähigkeiten des Patienten durch die Entfernung beeinträchtigt werden. Aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse dieser neuen Technik im Bereich des Gehirns werden derzeit ähnliche Systeme auch bei anderen Tumoren, wie beispielsweise im Bereich der Lunge, getestet.
Das Wiener Symposium zielt darauf ab, den aktuellen wissenschaftlichen Stand und zukünftige Forschungsfragen zu diskutieren. Unter anderem wird Hollon darüber sprechen, inwieweit es mittlerweile möglich ist, auch molekularpathologische Eigenschaften eines Tumors anhand von Bilddaten mithilfe von maschinellem Lernen zu erkennen. Die Hoffnung besteht darin, dass die langwierige Erstellung molekularer Analysen, die bisher oft mehrere Wochen dauert, durch KI-Unterstützung optimiert und verkürzt werden kann. Im Bereich der Neurowissenschaften und insbesondere der Neurochirurgie werden Teams aus verschiedenen Abteilungen in Österreich und Tschechien ihre neuen digitalen und KI-gestützten Ansätze vorstellen. Dazu gehören auch Überlegungen zur Verbesserung der Operationsplanung mithilfe von Virtual Reality (VR): "Hier gibt es sehr viel Potenzial. Wir sind hier gerade erst am Beginn", so die Mediziner.
Informationen zum Symposium des Comprehensive Center for Clinical Neurosciences and Mental Health von MedUni Wien und AKH Wien und der Österr. Sektion für Neurochirurgische Onkologie
(ANCO): https://cccnmh.meduniwien.ac.at/ai-symposium/;
Einschlägige Publikationen: https://dx.doi.org/10.3171/2022.9.FOCUS22429, https://dx.doi.org/10.1038/s41591-023-02252-4 und https://dx.doi.org/10.1038/s41551-016-0027)
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