
Mehr als 100 Jahre ist es her, seit Banting & Best Insulin aus tierischen Bauchspeicheldrüsen isolierten und den Grundstein der modernen Behandlung von Typ-1-Diabetes (T1D) legten. Menschen mit T1D sind aufgrund eines endogenen Insulin-Mangels auf die exogene Zufuhr dieses lebenswichtigen Hormons angewiesen und müssen es tagtäglich, abhängig von der konsumierten Kohlenhydrat-, Eiweiß- und Fettmenge, in unterschiedlichen Mengen zuführen. Doch wie bei vielen anderen autoimmun mediierten Erkrankungen ist immer noch vieles zur Pathogenese des T1D unklar. Der Schritt von einer reinen Substitution hin zu einer kausalen Behandlung liegt damit noch in ferner Zukunft.
Während die Forschung versucht, Antworten auf diese essenziellen Fragen zu finden, klettert die Zahl der Betroffenen stetig nach oben. Hochrechnungen zufolge werden bis 2040 weltweit 17,4 Millionen Menschen an T1D erkrankt sein. Auch in Österreich nimmt die Inzidenz weiter zu. Der Verlust an zu erwartender Lebenszeit ist umso höher, je früher sich T1D manifestiert. Eine im The Lancet publizierte Arbeit kommt zu dem Schluss, dass Buben durchschnittlich 15 und Mädchen sogar 17 Lebensjahre verlieren, wenn sich bei ihnen T1D vor dem 10. Lebensjahr manifestiert. Insofern ist es nachvollziehbar, Risikopersonen frühzeitig identifizieren und einer gezielten Versorgung zuführen zu wollen. Die International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes (ISPAD) schlägt in ihren Clinical Practice Consensus Guidelines konkrete Strategien zu Screening, Stadieneinteilung und dem Erhalt der Betazellfunktion bei Kindern und Jugendlichen vor.

- Lebenserwartung verlängern
- Lebensqualität verbessern
- Rate diabetischer Ketoazidosen verringern
- Zugang zu präventiven
- Therapien ermöglichen
Blick in die Gegenwart: Diabetische Ketoazidose
Ein wichtiges Argument für ein frühzeitiges Screening ist die alarmierend hohe Rate diabetischer Ketoazidosen bei Erstmanifestation. Kennzeichnend für diese Akutkomplikation sind Hyperglykämie, Azidose und Ketose. Die Schweregradeinteilung orientiert sich am Zustand der Patient:innen in leicht (bei Bewusstsein) und schwer (eingeschränktes Bewusstsein oder komatös).
In einer aktuellen österreichischen Registerstudie erhielten bis zu 60 % aller Patient:innen mit T1D ihre Diagnose im Zuge einer diabetischen Ketoazidose (DKA). Kinder unter zwei Jahren sind besonders gefährdet. Schwere DKA bei Kindern zu verhindern, spielt auch aus psychologischer Sicht eine bedeutende Rolle, da diese bleibende Auffälligkeiten in der kognitiven Leistung sowie ein verändertes Gehirnwachstum bis zu vier Jahre danach aufweisen. Kinder mit DKA bei T1D-Erstmanifestation haben infolgedessen einen deutlich niedrigeren Intelligenzquotienten, unabhängig von ihrer Herkunft. Die Früherkennung von T1D ermöglicht es, die DKA-Rate signifikant zu vermindern.
Die Früherkennung von T1D ist mit verringerten DKA- Raten assoziiert | |||
Studie | Population | DKA-Rate mit Früherkennung | Erwartete DKA-Rate ohne Früherkennung |
DAISY | Angehörige mit T1D/genetischem Risiko | 3,3 % | 44 % |
DIPP | Personen mit genetischem Risiko | 5 % | 23 % |
Fr1da | Allgemeinbevölkerung | 3 % | 17–36 % |
Munich Family | Angehörige mit T1D | 3,3 % | 29 % |
TEDDY | Angehörige/ genetisches Risiko | 6 % | > 30 % |
TRIGR | Angehörige mit T1D/genetischem Risiko | 4,6 % | 19–40 % |
Was, wann und wen screenen?
Kennzeichnend für den T1D ist eine progrediente Zerstörung der insulinproduzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse. Bis es zu einem kompletten Insulinmangel kommt, können wenige Monate bis mehrere Jahre vergehen. Wie und warum sich das körpereigene Immunsystem gegen die Betazellen richtet, ist nach wie vor nicht verstanden. Verschiedene prä- und postnatale Triggerfaktoren scheinen an der Entstehung und dem Fortschreiten zu T1D beteiligt zu sein. Arbeiten zu den molekularen Mechanismen deuten darauf hin, dass der Zelluntergang primär auf autoreaktiven T-Zellen beruht (Betazellschäden → Antigenpräsentation → Antikörperbildung). Diese sogenannten Autoantikörper (AAK) werden für das Screening auf T1D herangezogen. Je größer ihre Konzentration und je mehr AAK-Typen nachweisbar sind, desto höher ist das Risiko.
Die wichtigsten und am besten erforschten AAK sind GAD (Glutaminsäure Decarboxylase 65), IA2 (inselzellspezifische Tyrosinphosphatase), ICA (zytoplasmatische Inselzell-Antikörper), IAA (Insulin-Autoantikörper) und ZnT8A (Zinktransporter 8). Der Großteil aller Kinder und Jugendlichen mit T1D ist vor dem 6. Lebensjahr AAK-positiv und die meisten Hochrisikokinder wechseln von einer einfachen auf eine mehrfache AAK-Positivität innerhalb von zwei Jahren nach der ersten Serokonversion. Sind mehr als zwei AAK positiv, beträgt das Risiko für einen manifesten T1D in den nächsten fünf Jahren 75 % und im Laufe des Lebens 100 %.
Hieraus ergibt sich ein „window of opportunity“ für allgemeine Screening-Maßnahmen. Die beste Sensitivität errechnet sich für ein zweimaliges Screening im Alter von zwei und sechs Jahren. In diesem Fall werden über 80 % der gefährdeten Kinder erfasst. Das zeigen Daten aus TEDDY und BABYDIAB. In der TEDDY-Studie, welche die Entwicklung von AAK an über 8.800 Kindern mit genetischer Prädisposition untersuchte, verzeichnete man einen ersten AAK-Peak in den ersten zwölf Lebensmonaten. In der BABYDIAB-Studie, mit Kindern eines an T1D erkrankten Elternteils, erreichte die AAK-Serokonversion ihren Höhepunkt zwischen dem 9. Lebensmonat und 2. Lebensjahr. Sinnvoll ist ein derartiges Screening jedoch nur dann, wenn es populationsbasiert und nicht nur an Risikopersonen durchgeführt wird.

Praktische Umsetzung
An der praktischen Umsetzung wird momentan gearbeitet. In Österreich könnte man die genetische Risikokonstellation im Zuge des Neugeborenen-Screenings erheben und Allgemeinärzt:innen bzw. Kinderärzt:innen das populationsbasierte AAK-Screening übertragen. Die anschließende Beratung und Betreuung identifizierter Risikokinder übernehmen dann Diabetolog:innen. Dass dieses Vorgehen funktioniert, zeigt die bayrische Fr1da-Studie, die über 90.000 Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren populationsbasiert auf AAK screente. Kinder mit ≥ 2 AAK wurden daraufhin einer wohnortnahen Diabetesversorgung zugewiesen. Die American Diabetes Association hat einen Konsensleitfaden publiziert, der Ärzt:innen über das weitere Vorgehen informiert
Blick in die Zukunft: Präventive Therapien
Optimalerweise schließt sich der positiven Früherkennung eine gezielte therapeutische Intervention an. Ziel dieser Immunintervention ist der Erhalt der Betazellfunktion, indem man in die zugrundeliegenden Signalwege eingreift, die an der Glukosetoleranz beteiligt sind und auf diese Weise den Übergang von präsymptomatischem zu manifestem T1D hinauszögert.
Erste Ansätze wurden bereits erfolgreich in klinischen Studien getestet und von der FDA zugelassen. Der monoklonale anti-CD3-Antikörper Teplizumab ist indiziert, um den Ausbruch von T1D im Stadium 3 bei Erwachsenen und pädiatrischen Patient:innen ab 8 Jahren mit T1D im Stadium 2 zu verzögern. Die im New England Journal of Medicine publizierte Studie schloss 76 Patient:innen im Stadium 2 (≥ 2 AKK plus Dysglykämie) ein und untersuchte die einmalige Gabe von Teplizumab vs. Placebo im Hinblick auf die Progression zu Stage 3 (klinisch manifester T1D) mit einer Nachbeobachtungszeit von fünf Jahren. Die mittlere Dauer bis zur Diagnose betrug 48,4 Monate in der Teplizumab- und 24,4 Monate in der Placebo-Gruppe. T1D wurde bei 43 % der Teilnehmer:innen, die Teplizumab erhielten, und bei 72 %, die Placebo erhielten, diagnostiziert. Was für den neutralen Leser bzw. die neutrale Leserin unter Umständen nach einer vergleichsweise geringen Effektstärke aussieht, bedeutet für Betroffene, zwei Jahre länger ein normales Leben mit uneingeschränkter Lebensqualität führen zu können.
In der sich anschließenden Phase-3-Studie erhielten 300 Kinder und Jugendliche zwei Infusionszyklen mit Teplizumab oder Placebo innerhalb von sechs Wochen nach formaler T1D-Diagnose. Teplizumab wirkte sich positiv auf den Erhalt der Betazellfunktion aus, jedoch wurden keine signifikanten Unterschiede bei den sekundären Endpunkten Insulinbedarf, HbA1c, Time-in-Range und Hypoglykämie registriert. Ein anti-CD3-basierter Ansatz scheint demnach nur bei frühzeitiger Gabe sinnvoll zu sein. Andere, wie die Einzelgabe von niedrigdosiertem Anti-Thymozyten-Globulin, werden aktuell in Studien unter die Lupe genommen.
Fazit
Wir stehen vor einem Neuanfang in der Therapie des T1D. Erstmals seit der Einführung des Insulins in die medizinische Behandlung gelingt es mittels Screenings, das T1D-Risiko frühzeitig zu erfassen und die Progression hin zum klinisch symptomatischen Stadium 3 mit Immuntherapien zu verzögern. Darüber hinaus verringert ein T1D-Screening mit nachfolgender Patientenedukation die DKA-Raten bei Erstmanifestation erheblich, wie Daten aus diversen europäischen und internationalen Studien veranschaulichen. Von den bisherigen Screening-Modellen scheint ein populationsbasiertes Screening auf Basis genetischer Tests und AAK am vielversprechendsten, da es möglichst viele Kinder und Jugendliche erfasst. Da Testung und Follow-Up zweifelsohne komplex und ressourcenintensiv sind, wird an der praktischen Umsetzung zurzeit noch gearbeitet.
Quellen
- Arvan P et al. Islet autoantigens: structure, function, localization, and regulation. Cold Spring Harb Perspect Med. 2012; 2(8):a007658.
- Banting FG et al. Pancreatic Extracts in the Treatment of Diabetes Mellitus.
Can Med Assoc J. 1922; 12(3):141-6. - Barker JM et al. Prediction of autoantibody positivity and progression to type 1 diabetes: Diabetes Autoimmunity Study in the Young (DAISY). J Clin Endocrinol Metab. 2004; 89(8):3896-902.
- Bingley PJ et al. Type 1 Diabetes TrialNet: A Multifaceted Approach to Bringing Disease-Modifying Therapy to Clinical Use in Type 1 Diabetes. Diabetes Care. 2018; 41(4):653-661.
- Bonifacio E et al. An Age-Related Exponential Decline in the Risk of Multiple Islet Autoantibody Seroconversion During Childhood. Diabetes Care. 2021; 44(10):2260–8.
Weitere Literatur auf Anfrage