Mangelernährung ist ein weit verbreitetes, aber oft übersehenes Problem. Die Folgen reichen weit über den individuellen Patientenfall hinaus: Neben dem erhöhten Risiko für Komplikationen und einer verzögerten Genesung entstehen auch erhebliche Mehrkosten für das Gesundheitssystem. Diese vierteilige Artikelserie beleuchtet daher die Bedeutung einer systematischen Herangehensweise an die Ernährungsmedizin – von frühzeitigem Erkennen bis zur gezielten Behandlung von Mangelernährung im klinischen und ambulanten Setting.
Besonders hervorzuheben ist dabei die Rolle multidisziplinärer Ernährungsteams, die in österreichischen Krankenhäusern standardisierte Rahmenbedingungen und evidenzbasierte Handlungsalgorithmen für die Behandlung von Patient:innen mit Mangelernährung entwickeln.
Solche Ernährungsteams im klinischen Bereich sind sehr breit aufgestellt und kommen aus unterschiedlichen Disziplinen, berichtet Frau Eva Kugel, MSc. Sie ist leitende Diätologin am LKH in Graz und für die Koordination und Organisation des Ernährungsteams aus Diätolog:innen, Ärzt:innen, Pfleger:innen, Küchenleitung und auch Apotheker:innen zuständig.
Eine der Hauptaufgaben eines Ernährungsteams ist das Implementieren eines Ernährungsscreenings, welches bei der Aufnahme auf Station besonders wichtig ist, um eine krankheitsassoziierte Mangelernährung festzustellen. Diese liegt laut Studienlage in deutschen Krankenhäusern bei der Aufnahme zwischen 20 und 60 %.
Mangelernährung: Mehr als ein Symptom
Mangelernährung ist deshalb so problematisch, weil sie sowohl das Krankheitsrisiko als auch die Sterblichkeit von Patient:innen deutlich erhöhen kann, sei es bei akuten oder chronischen Erkrankungen oder nach chirurgischen Eingriffen. Außerdem zieht sie eine verzögerte Rekonvaleszenz, eine längere Krankenhausverweildauer und hohe Behandlungskosten mit sich.1
Laut Definition entsteht Mangelernährung durch ein Missverhältnis zwischen Nährstoffzufuhr und -bedarf. Diese Dysbalance führt zu charakteristischen Veränderungen der Körperzusammensetzung – insbesondere zu einem verstärkten Abbau von Muskelprotein (Proteinkatabolie). Eng verwandt mit dem Begriff der Mangelernährung sind drei weitere klinische Entitäten: Kachexie, Sarkopenie und Anorexie.2
Kachexie
Kachexie beschreibt ein multifaktorielles Syndrom, bei dem Gewichtsverlust, Muskelatrophie, Müdigkeit und Schwäche gemeinsam mit signifikantem Appetitverlust einhergehen. Ursachen sind meist systemische Inflammation und chronische Erkrankungen, wie z. B. chronische Infekte, Tumorerkrankungen oder Herz- und Niereninsuffizienz.2,3
Sarkopenie
Die Sarkopenie ist eine progrediente generalisierte Skelettmuskelerkrankung, wodurch es primär zum übermäßigen Verlust der Muskelkraft, der Muskelmasse und der Funktionalität kommt. Sie ist oft Folge von Mobilitätseinschränkungen und fortschreitendem Alter. Die Folgen sind meist eine erhöhte Sturzgefahr und ein erhöhtes Frakturrisiko. Interessant ist auch, dass eine Adipositas weder die Diagnose einer Kachexie noch einer Sarkopenie ausschließt. Nicht selten tritt die Sarkopenie im Zuge einer Krebserkrankung auf. Wie wichtig hier eine adäquate Ernährungstherapie zur Vermeidung von Sarkopenie ist, demonstriert Abbildung 1 (siehe links). Zu sehen ist hier die Auftrittshäufigkeit der dosislimitierenden Toxizität von verschiedenen Chemotherapeutika bei Patient:innen mit und ohne Sarkopenie. Speziell der Erhalt von Muskelmasse konnte auch bei der Einweisung auf Intensivstationen als prognostischer Parameter für das Gesamtüberleben mit schweren Erkrankungen gesehen werden.2,4
Anorexie
Anorexie bezeichnet allgemein das Symptom der Appetitlosigkeit. Ursächlich kann die Anorexie durch veränderte Appetitregulation oder als Folge von Übelkeit und Erbrechen beispielsweise im Zuge einer Chemotherapie auftreten. Auch die Folgen einer onkologischen Behandlung wie z. B. Mukositis oder Obstruktionen des Gastrointestinaltraktes fördern eine Anorexie.2,3
Screening & Diagnose
Die Global Leadership Initiative on Malnutrition (GLIM) hat die Definitionen von Mangelernährung verschiedener Fachgesellschaften einheitlich zusammengefasst: Die Diagnose Mangelernährung wird gestellt, wenn nach erfolgtem validierten Mangelernährungsscreening ein positives Ergebnis sowohl aus einem phänotypischen als auch einem ätiologischen Kriterium vorliegt (siehe Abbildung 2 oben). Bei der Erfassung der Kriterien zur Diagnose einer Mangelernährung können unterschiedliche diagnostische und apparative Methoden zum Einsatz kommen:
• Handkraftmessung
• Erfassung des Körpergewichts, Größe, Bestimmung des BMI (Body-Mass-Index)
• DEXA (Dual Energy X-Ray-Absortiometry)-Scans, MRT, CT, BIA-Messung (Bio-Impedanz-Messung)
• Laborwerte (insbesondere Serumproteine wie Albumin, Präalbumin, CRP, Transferrin, Retinol bindendes Protein)
• Oberarm- und Wadenumfangmessung
Wenn Ernährung zur Therapie wird
ÖAZ Wie kamen Sie zu Ihrem jetzigen Beruf und was waren Ihre Motive, als Diätologin zu arbeiten?
Eva Kugel, MSc. Das Thema Ernährung ist für mich besonders interessant, denn es betrifft alle Menschen und so kann ich mit den verschiedensten Menschen arbeiten. Nahrung ist die erste Medizin, so kann ich tätig werden, bevor Medikamente nötig sind.
ÖAZ Wie groß ist das Ernährungsteam am LKH Universitätsklinikum Graz und aus welchen unterschiedlichen Berufsgruppen besteht es?
Kugel Das Ernährungsteam am LKH-Univ. Klinikum ist ein interdisziplinäres Fachgremium für die Klinische Ernährungsmedizin. Unter der Leitung einer Vertretung der ärztlichen Direktion und mir als leitender Diätologin in der organisatorischen Funktion kommen rund 80 Fachpersonen zusammen – darunter ernährungsbeauftragte Ärzt:innen je Klinik/Abteilung, alle Diätolog:innen, ernährungsbeauftragte Pflegepersonen, Vertreter:innen der Anstaltsapotheke, Küchenleitung und je nach Bedarf Logopäd:innen, Physiotherapeut:innen etc.
ÖAZ Was fällt in den Wirkungsbereich des Ernährungsteams und was sind typische Fragestellungen, mit denen sie konfrontiert werden?
Kugel Im Prinzip alle Belange der Ernährungsmedizin – angefangen von der Implementierung und Anwendung von validierten Ernährungsassessments zur Erfassung des Ernährungszustandes, die Erstellung von Ernährungsplänen, die Produktauswahl von enteraler und parenteraler Ersatznahrung, das Entlassungsmanagement, Qualitätsmanagement, Schulungen u. v. m.
ÖAZ Welche Stationen werden aktuell diätologisch betreut?
Kugel Diätolog:innen versorgen alle Stationen des LKH-Univ. Klinikums Graz. Ambulante Patient:innen können aus Kapazitätsgründen nur eingeschränkt betreut werden.
ÖAZ Bei welchen Krankheitsbildern ist man als Diätologin im klinischen Setting am meisten gefordert?
Kugel Als Diätologin ist man bei vielen Krankheitsbildern gefordert. Es wäre leichter zu berichten, wo Diätolog:innen im klinischen Setting nicht gebraucht werden. Besonders im Einsatz sind wir auf internistischen Stationen wie der Onkologie und Nephrologie sowie im Umgang mit Patient:innen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und Diabetiker:innen. Auch im Bereich der perioperativen Ernährung leisten wir einen wichtigen Beitrag, sei es bei der Planung von Trinknahrungen oder der enteralen bzw. parenteralen Ernährung. Weitere zentrale Aufgabenfelder sind die Ernährungstherapie bei Kindern und älteren Menschen, die Betreuung von Patient:innen mit Mangelernährung, Kau- und Schluckstörungen, Nahrungsmittelallergien sowie angeborenen Stoffwechselerkrankungen.
ÖAZ Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht die Weiterführung der Ernährungstherapie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus?
Kugel Besonders wichtig, denn Nahrung ist nicht nur die erste Medizin, Nahrung ist auch die tägliche Medizin. Also ja, es muss weitergehen.
ÖAZ Gibt es etablierte Konzepte zur Sicherstellung der Versorgung nach der Entlassung?
Kugel Ja, es gibt gut strukturierte Maßnahmen, um die Versorgung auch nach der Entlassung zu gewährleisten. Dazu gehören patientengerecht aufbereitete Beratungsunterlagen, die die wichtigsten Empfehlungen verständlich zusammenfassen. Ein weiterer zentraler Bestandteil ist das Entlassungsmanagement, etwa für Trinknahrung sowie heimenterale und heimparenterale Ernährung und die Dokumentation in Abschlussberichten.