Stürze im Alter

Ist nur der Teppich schuld?

Mag. pharm. Irene Senn, PhD
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Etwa ein Drittel aller über 65-Jährigen stürzt zumindest einmal pro Jahr, die Hälfte davon sogar mehrmals. Für ältere Menschen stellt ein Sturz immer ein erhebliches Risiko für Frakturen und andere schwerwiegende Verletz-ungen dar. Ein beachtlicher Prozent-satz verstirbt innerhalb von einem Jahr nach dem Sturzereignis.1 Damit gehören Stürze zu den bedeutendsten gesundheitlichen Problemen in der Geriatrie.2

Weitreichende Folgen

Auch ohne schwere Verletzungen hat ein Sturz für einen älteren Menschen meist dramatische Folgen. Denn abgesehen von den körperlichen Einschränkungen haben Stürze auch erhebliche Aus-wirkungen auf die Psyche. Viele geraten in den Teufelskreis der Sturzangst. Die Betroffenen bewegen sich immer weniger – die Folgen sind vermehrter Muskel-abbau und Verlust der koordinativen Fähigkeit. Das Sturzrisiko steigt. Dies schränkt nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen massiv ein, sondern erhöht auch den Pflegeaufwand. 

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Stolperfallen wie Teppiche, Türschwellen und Kabel werden oft als
Hauptursache für Stürze im Alter angenommen. Doch mittlerweile gibt es eindeutige Daten, dass bei älteren Personen vor allem
intrinsische Risikofaktoren für Stürze verantwortlich gemacht werden müssen.

Mehrere Ursachen – ein Auslöser

Monokausale Sturzursachen, bei denen ein Sturz durch von außen einwirkende Kraft verursacht wird, sind bei älteren Menschen eher selten. Der weitaus größte Teil der Stürze im Alter sind sogenannte lokomotorische Stürze. Sie sind auf ein Zusammentreffen mehrerer Risikofaktoren und eines einzelnen Auslösers zurückzuführen. Dabei spielen sowohl intrinsische (patientenindividuelle) Risikofaktoren als auch extrin-sische Umweltfaktoren eine Rolle (siehe Tabelle 1). Leider addieren sich Risiko-faktoren nicht nur, sie potenzieren sich.

Risikofaktor Polypharmazie

Polypharmazie stellt bei älteren Personen einen eigenständigen Risikofaktor dar, insbesondere, wenn sogenannte FRID (fall risk increasing drugs) in der Medikationsliste auftauchen.3,4 FRID sind Arzneimittelklassen, die ein besonders hohes Sturzrisiko bergen. Als sturzbegünstigende Medikation gelten psychotrope Arzneimittel wie Anti-depressiva, Neuroleptika, Anxiolytika und Sedativa, aber auch Antihypertensiva, Antiarrhythmika, Anticholinergika, Antihistaminika und stark wirksame Opioide. Allerdings gibt es durchaus Unterschiede zwischen den Wirkstoffklassen für eine Indikation sowie auch innerhalb einer Wirkstoffklasse, sodass sich oft recht einfach gute Alternativen finden lassen.

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Polypharmazie stellt bei älteren Personen einen eigenständigen Risikofaktor dar, insbesondere, wenn sogenannte FRID (fall risk increasing drugs) in der Medikationsliste auftauchen. © Shutterstock

Wie weitverbreitet die Einnahme von sturzgefährdenden Medikamenten ist, belegt eine Studie aus den USA: Die Analyse von 7,8 Mrd. Verordnungen in den USA, im Zeitraum 1999–2017, zeigte, dass 94 % der über 65-Jährigen zumindest ein FRID einnehmen. Im Jahr 1999 waren es nur 57 %.5

FRID: fall risk increasing drugs

Die European Geriatric Medicine Society (EuGMS) hat erst kürzlich eine umfassende Bewertung von FRID publiziert, ergänzend wurden auch praxisrelevante Deprescribing-Guidelines entwickelt.6 Daneben bieten die be-kannten START-STOPP-Kriterien7 sowie die PRISCUS8- und FORTA9-Liste eine gute Orientierungs-hilfe über problematische Arzneistoffe. Eine österreichische PIM-Liste wurde 2012 publiziert.10 Eine Übersicht – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ist in Tabelle 2 zusammengestellt. 

Tabelle 1

Risikofaktoren für lokomotorische Stürze

Intrinsische Risikofaktoren
(personenbezogene Faktoren)
Extrinsische Risikofaktoren
(umweltbezogene Faktoren)

• Balance- und Gangstörungen

• Muskelschwäche der unteren
Extremitäten

• Mangelernährung

• Beeinträchtigungen beim Sehen
oder Hören

• depressive Symptomatik und/oder kognitive Defizite

• Multimorbidität

• Gangbildveränderung nach
Schlaganfall

• nächtlicher Harndrang

• Schwindel

• Arthrose

• orthostatische Hypotonie

• Beschaffenheit der Wohnung
(Stolperfallen wie Teppiche, Schwellen, Stufen ohne Handgriff, schlechte
Beleuchtung)

• schlechtes Schuhwerk, zu lange
Kleidungsstücke

• inadäquate, verschmutzte Sehhilfen

• Benutzung von schlecht angepassten Gehhilfen (Stock, Rollator)


Medikamenten-assoziierte
Risikofaktoren

• Polypharmazie (Einnahme von mehr
als vier Arzneimitteln)

• Einnahme von FRID

Hypnotika und Tranquilizer

Mehr oder weniger alle psychotropen Substanzen sind als problematisch anzusehen, insbesondere Benzodiazepine gelten als klassische Risiko-medikation. Die sedierende Wirkung mit einer gleichzeitigen Verminderung des Muskeltonus führt zu Problemen mit dem Gleichgewicht, der Standfestigkeit und Gangsicherheit. Leider nehmen gerade ältere Menschen diese Medikamente oft dauerhaft gegen Schlaf-losigkeit, Unruhe- und Angst-zustände ein. Wenn überhaupt, sollten kurz wirksame Vertreter gewählt und diese maximal für vier bis sechs Wochen verschrieben werden. Auch die TMD muss für geriatrische Patienten niedriger angesetzt werden; meist reichen 50 % der normalen Erwachsenendosis. 

Antidepressiva und Neuroleptika

Unter den Antidepressiva sind vor allem Arzneistoffe mit anticholinergen und sedativen Effekten sowie extra-pyramidalen Nebenwirkungen als kritisch einzu-stufen. Im Alter vermindert sich die Anzahl der cholinergen Neu-ronen im Gehirn, was ältere Personen besonders anfällig für anticholinerge Nebenwirkungen macht. Typische Symptome sind Schwindel, Ver-wirrtheit, Gleichgewichts- und Seh-stör-ungen. Das Sturzrisiko steigt durch die Kombination mehrerer anticholinerger Wirkstoffe (hohe anticholinerge Last).

Extrapyramidal-motorische Stör-ungen (EPMS), die durch viele Anti-psychotika ausgelöst werden können, entstehen u. a. durch Blockade dopamin-erger Rezeptoren. Dadurch kann es zu Störungen der Bewegungsabläufe kommen. Substanzen mit erhöhtem EPMS-Risiko sind Haloperidol, Aripiprazol und Risperidon. 

Antihistaminika

Die meisten PIM-Listen raten von Antihistaminika der ersten Generation (Doxylamin, Diphenhydramin) für Menschen über 65 Jahren ab (für Details siehe Pharmazie-News auf Seite 16). Eingesetzt werden diese Substanzen zur Kurzzeittherapie von Schlafstörungen sowie bei Übelkeit, Erbrechen und Reisekrankheit. Neben den bekannten sedierenden Neben-wirkungen haben diese Substanzen auch anticholinerge Effekte.

Antihypertonika

Bei älteren Patienten sollte man immer auch einen Blick auf die antihyper-tensive Behandlung werfen. Denn nicht selten wird eine Hypertonie im Alter übertherapiert. In der Geriatrie gilt nicht zwangsläufig der Grundsatz „je niedriger, umso besser“. Zwar gab es in den vergangenen Jahren eine große Studie an älteren Menschen, die einen Benefit einer intensiven Blutdruck-therapie (systolischer Zielblutdruck 120 mm Hg) belegte.11 In der zitierten SPRINT-Studie waren jedoch überdurchschnittlich fitte Personen überrepräsentiert. Eine Übertragung der Ergebnisse auf gebrechliche, alte Menschen ist nicht möglich. 

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Bei älteren Patienten sollte man immer auch einen Blick auf die antihypertensive Behandlung werfen. Denn nicht selten wird eine Hypertonie im Alter übertherapiert.

Die PARTAGE-Studie an Pflegeheim-bewohnern (> 80 Jahre) zeigte eine Verdopplung der Mortalität bei zu strenger antihypertensiver Therapie (< 130 mm Hg).12 Ein zu starker Blutdruckabfall begünstigt Kreislauf-probleme und eine orthostatische Dysregulation. Zudem können Blutdruckschwankungen im Alter nicht mehr so effizient ausgeglichen werden.

Das Absetzen von Antihypertensiva zeigte in einer prospektiven Kohortenstudie eine deutliche Senkung des Sturzrisikos; weniger ausgeprägt waren die Effekte durch das Absetzen von Psychotropika.13

Antidiabetika

Auch Hypoglykämien können Stürze verursachen. Ein ausgeprägtes hypo-glykämisches Risiko ist für Sulfonylharnstoffe, Insulinpräparate und Glinide bekannt. Diabetiker sollten die Anzeichen für einen „Hypo“ kennen und rasch resorbierbare Kohlen-hydrate (Traubenzucker) für den Notfall dabei haben. 

Tabelle 2
* Die Odds-Ratio gibt an, um wie viel größer das Sturzrisiko unter Therapie mit dem Arzneistoff ist.

Risikomedikation Fall risk increasing drugs (FRID)

Organsystem Wirkstoffgruppe

Wirkstoff 

(Beispiele)

Odds-Ratio*

Nervensystem/

Psyche

Antidepressiva Amitriptylin 1,46

Citalopram

Fluoxetin

1,65
Hypnotika, Tranquilizer

Diazepam

Flurazepam

Bromazepam

2,02

Oxazepam

Alprazolam

2,12
Zolpidem 2,26
Neuroleptika Haloperidol

Risperidon

Nervensystem/

Motorik

Antiepileptika

Carbamazepin

Phenytoin

1,51
Parkinsonmittel Biperiden 4,18-5,79

Nervensystem/

Schmerzen

Analgetika Morphin 1,68
Oxycodon 3,08
Antihistaminika Diphenhydramin
Herz-Kreislauf Antiarrhythmika Flecainid
Nitrate ISMN, ISDN
Digitalisglykoside Digoxin
Antihypertensiva Candesartan 2,39 – 8,42
Calciumantagonisten Amlodipin 1,7
Diltiazem 2,45
Diuretika HCT 1,8
Torasemid 2,39
Antidiabetika Sulfonylharnstoffe Gliclazid
Sonstige Laxanzien Bisacodyl 2,1


Sturzprophylaxe – am besten multimodal

Die gute Nachricht ist: Viele Stürze sind vermeidbar. Die erfolgreichsten Sturzpräventionsprogramme sind multi-faktoriell angelegt und können eine Reduktion der Stürze um 20 bis 50 % erreichen. Neben einer Medikationsanalyse und gegebenenfalls einer Anpassung der Medikation steht die Wiedererlangung oder Verbesserung der motorischen Kompetenz im Mittelpunkt. Die Musku-latur muss dabei ebenso trainiert werden wie die Koordination und motorische Geschicklichkeit. Eine einfache Übung sind z. B. Sitzkniebeugen, bei denen man mehrmals von einem Stuhl aufsteht und sich wieder hinsetzt. Das fördert Gleichgewicht, Muskelkraft und Reaktionsvermögen.

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Die erfolgreichsten Sturzpräventionsprogramme sind multi­faktoriell angelegt und können eine Reduktion der Stürze um 20 bis 50 % erreichen. © Shutterstock

Als besonders effektiv hat sich Tai Chi erwiesen: Die Häufigkeit von Stürzen konnte nach 15 Wochen Tai Chi um fast 48 % reduziert werden, wobei dieser Effekt vermutlich mehr auf einer Stärkung des Selbstvertrauens als auf einer unmittelbaren Verbes-serung der motorischen Fähigkeiten beruht.14 Allerdings sollten ent-sprechende Übungs- und Trainings-einheiten vorzugsweise im jüngeren Seniorenalter und damit prophy-laktisch erfolgen, da Hochbetagte häufig nicht mehr in der Lage sind, sie zu erlernen und regelmäßig zu absolvieren.

Bei hochbetagten Personen kann durch das Tragen von Hüftprotektoren das Risiko von Knochenfrakturen deutlich gesenkt werden und wird daher vor allem in Alters- und Pflegeheimen uneingeschränkt empfohlen.15 Sie können außerdem – ebenso wie Gehstöcke und Rollatoren – ein Sicherheitsgefühl geben und damit die Mobilität fördern. 

Zu Hause sollte die Umgebung so sicher wie möglich gestaltet und Stolperfallen möglichst aus dem Weg geräumt werden. Haltegriffe in Bad und Toiletten bieten zusätzliche Sicherheit. Auch an eine gute Beleuchtung sollte gedacht werden. Knöchelhohe, rutschfeste Schuhe mit dünner, harter Sohle und flachem Absatz scheinen den sichersten Halt zu geben und sind mit einer verringerten Sturzrate assoziiert. 

Fragen zur Abschätzung des Sturzrisikos
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Stürze werden von den Betroffenen gerne verschwiegen, nicht zuletzt aus Angst, in ein Heim eingewiesen zu werden und die Selbstständigkeit zu verlieren. Gerade deshalb ist es besonders wichtig, aktiv nach Stürzen zu fragen und vorbeugende Maßnahmen aufzuzeigen.

  • Haben Sie Schwierigkeiten beim Aufstehen von einem Stuhl oder beim Gehen?
  • Haben Sie Probleme, das Gleichgewicht zu halten?
  • Sind Sie im letzten halben Jahr gestürzt? Wie oft? In welchen Situationen?
  • Mussten Sie wegen eines Sturzes schon mal zum Arzt oder ins Krankenhaus?
  • Welche Medikamente nehmen Sie regelmäßig ein?

Quellen

1   WHO: WHO Global Report on Falls Prevention in Older Age. 2007 

2   Seppala LJ et al.: EuGMS Task and Finish group on Fall-Risk-Increasing Drugs (FRIDs): Position on Knowledge Dissemination, Management, and Future Research. Drugs Aging 2019;36(4):299-307.

3   Zia A et al.: The consumption of two or more fall risk-increasing drugs
rather than polypharmacy is associated with falls. Geriatr Gerontol Int 2017;17(3):463-470

4   Bennett A, et al.: Prevalence and impact of fall-risk-increasing drugs, polypharmacy, and drug-drug
interactions in robust versus frail hospitalised falls patients: a prospective cohort study. Drugs Aging 2014;31(3):225-232.

5   Shaver AL et al.: Trends in fall-related mortality and fall risk increasing drugs among older individuals in the United States,1999-2017. Pharmacoepidemiol Drug Saf 2021;30(8):1049-1056.

Weitere Literatur auf Anfrage 

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