Interview

„Das Wohl der Patient:innen an oberster Stelle“

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Peter Stenico © Dominik Gierke
Peter Stenico © Dominik Gierke

Die starke Position von Fernost in der Wirkstoffherstellung setzt Europa unter Druck. In einem gallischen Dorf in Tirol widersetzt man sich diesem Trend und versucht die Abhängigkeit zu reduzieren. 

ÖAZ Sandoz hat angekündigt, weitere 50 Millionen Euro in den Standort Kundl zu investieren. In welchen Bereichen soll das Geld eingesetzt werden?
Peter Stenico Das ist korrekt. Insgesamt geht es um ein  Antibiotika-Investitions-Paket von 200 Millionen Euro, um den Standort Kundl noch wettbewerbsfähiger zu gestalten und die Kapazität weiter auszubauen. Konkret werden vom Investitionspaket 150 Millionen in die neue Wirkstoffproduktion zur enzymatischen Herstellung von Penicillin fließen, weitere 50 Millionen Euro gehen in den Ausbau unserer Fertigformproduktion. Die neue Produktionsanlage zur enzymatischen Herstellung von Penicillin wurde kürzlich eingeweiht und wird Anfang 2024 kommerziell an den Start gehen. Ziel ist die Versorgungssicherheit aus Europa zu wettbewerbsfähigen Kosten mit einem deutlich verbesserten ökologischen Fußabdruck. Ein Meilenstein für Patient:innen, die Versorgungssicherheit sowie die Umwelt, denn die neue Produktionsanlage ist durch weniger Energie, Abfall, Wasser und CO2 wesentlich umweltschonender. In Summe wird der Energieverbrauch um 70 %, der CO2-Verbrauch sogar um 90 % reduziert. 
 
ÖAZ Welche Kapazitäten hat Kundl und wie viel Prozent der produzierten Medikamente verbleiben in Österreich?
Stenico In Kundl produzieren wir rund 4.000 Tonnen Wirkstoff. Theoretisch könnten wir den gesamten europäischen Bedarf an Penicillin decken. Allerdings versorgen wir aus Kundl die ganze Welt. Mit unseren 200 Millionen Packungen beliefern wir über 100 Länder. Rund die Hälfte der Packungen bleiben in Europa, ein entsprechender Teil in Österreich. 

ÖAZ Es gab Überlegungen, die Produktion von Kundl nach Fernost zu verlegen. Warum hat man sich umentschieden?
Stenico Kundl ist die letzte große, vollintegrierte Penicillin-Produktion in Europa, die vom Wirkstoff in der Fermentation bis hin zur fertig verpackten Tablette alles aus einer Hand herstellt. Und ja, die Kostenstruktur in Europa ist eine andere als in Asien. Wir stehen für faire Gehälter, gute Arbeitsbedingungen und hohe Umweltstandards. Doch bei allen Kennzahlen gibt es entscheidende Faktoren, die für uns den Unterschied machen: einerseits der große Wissensschatz unserer 2.700 Mitarbeiter:innen aus über 60 Nationen, andererseits unsere jahrzehntelange Erfahrung in der Medikamentenproduktion. Seit 77 Jahren leisten wir Pionierarbeit für die Patient:innen. In der Nachkriegszeit wurde in der Not nicht nur eine Brauerei als Penicillin-Fabrik umfunktioniert, sondern auch Medizingeschichte geschrieben, als zwei Tiroler, Ernst Brandl und Hans Margreiter, das erste oral zu verabreichende Penicillin der Welt entwickelt haben. Und dieser Pioniergeist lebt – gestern wie heute und so auch morgen. Die Inbetriebnahme der neuen Penicillin-Produktion ist ein Bekenntnis zur Zukunft des Standorts. 
 
ÖAZ Als letzter Hersteller von Antibiotika in Europa nimmt Sandoz eine ganz besondere Stellung bei der Versorgung der Bevölkerung ein und ist gleichzeitig ein großer Hoffnungsträger. Wie sehen Sie die starke Abhängigkeit Europas von Asien und wie schätzen Sie die Chancen ein, dass Europa mittelfristig wieder zu einer eigenen Produktion von Medikamenten zurückfindet?
Stenico Wir sind uns unserer Verantwortung absolut bewusst und machen unsere Hausaufgaben, um Versorgung und Wettbewerbsfähigkeit in Balance zu halten. Auch wir beobachten die Entwicklungen mit Sorge und wünschen uns eine Rückverlagerung, müssen aber leider realistisch bleiben und fokussieren uns auf das Halten des Status Quos. Dank unserer langen Geschichte und unserer laufenden Investitionen in Innovation und Effizienz konnten wir einen großen Wettbewerbsvorteil aufbauen. So etwas kann man leider nicht auf einer grünen Wiese von Null errichten.
 
ÖAZ Lieferengpässe sind in Europa ein ganz zentrales Thema. Trägt Ihrer Meinung nach die nach Asien ausgelagerte Produktion den Löwenanteil an dieser Problematik?
Stenico Lieferengpässe sind leider ein sehr komplexes Thema. Und es geht auch gar nicht nur um Asien. Sondern viel mehr um das Faktum, dass es aufgrund des Preisdrucks pro Wirkstoff oft nur mehr ganz wenige oder nur gar einen Anbieter gibt. Fallen die wenigen Anbieter aus, kann es zu Engpässen kommen. Grundsätzlich unterscheiden wir in der Produktion zwischen Wirkstoffproduktion (API) und Fertigformproduktion (FDF). Gerade in der Wirkstoffproduktion herrscht ein intensiver Wettbewerb und der Kostendruck führte zu einer massiven Konsolidierung der Hersteller. Asien überholte Europa bei den Neuzulassungen von europäischen Qualitätszertifikaten von Wirkstoffen zwischen 2000 und 2020 signifikant. Medikamente aus Europa brauchen ökonomische Rahmenbedingungen: Preise werden per Gesetz nach unten gedrückt, gleichzeitig sollen verlorene Produktionskapazitäten zurückgeholt werden – im Niedrigpreissegment ein herausforderndes Ziel. Gerade die Wirkstoffproduktion ist energie- und rohstoffintensiv und bei den jüngst gestiegenen Kosten in Europa und dem hohen Fachkräftemangel, ist es nur schwer abzusehen, dass wir diesen Wettbewerbsnachteil gegenüber Asien wieder aufholen können. Mit Kundl sind wir in der Lage, durch unseren Pioniergeist und unser 77 Jahre erfahrenes Wissen in der Penicillin-Produktion erfolgreich zu sein. Allerdings können wir, im Gegensatz zu anderen Branchen, Kostensteigerungen nicht im Preis darstellen. Arzneimittelpreise sind sehr streng und langfristig reguliert und so trifft uns die Inflation doppelt hart. Aus dem Grund beobachten wir mit Sorge, dass das Angebot von Generika zurückgeht, denn bei einer steigenden Nachfrage müssen wenige Anbieter dann das Angebot überkompensieren. Stabile Preise und Kostenwettbewerbsfähigkeit sind Grundvoraussetzungen für eine nachhaltige Produktion, ohne Kompromisse bei Qualität und Gesundheit, Sicherheit und Umwelt einzugehen. Am Ende muss uns Versorgungssicherheit auch etwas Wert sein. 
 
ÖAZ Die Politik hat die Gefahr letztlich erkannt und heuer Millionenförderungen für die Entwicklung neuer Medikamente zur Verfügung gestellt. Ist das ein Tropfen auf dem heißen Stein oder sehen Sie Österreich als attraktiven Standort für Forschung und Wissenschaft?
Stenico In allen Bereichen ist es wichtig, die richtigen Rahmenbedingungen und Anreize zu schaffen um Österreich als Standort für Innovation und Produktion aber auch Forschung und Wissenschaft attraktiv zu machen und zu halten, denn so halten wir Wertschöpfung in Europa.  Investitionsfreude, Erfindergeist und eine dynamische Forschungsszene gehen Hand in Hand.
 
ÖAZ Welche Ziele haben Sie sich für die nächsten Jahre gesteckt? Wie wird es in Kundl weitergehen?
Stenico Bei Sandoz verfolgen wir ein klares Ziel: Pioniere in der Versorgung von Patient:innen bei Arzneimitteln zu sein. Dazu möchte ich auch in Österreich einen Beitrag leisten und mit einer starken Pipeline an wichtigen patentfreien Medikamenten – von komplexen Generika bis hin zu Biosimilars, auf unserem tiefgreifenden wissenschaftlichen Erbe aufbauen. Gemeinsam mit den rund 2.700 Mitarbeitenden geht es weiter darum, mit Mut und Innovation erschwingliche, nachhaltige und hochwertige Gesundheitsversorgung zu liefern.
 
ÖAZ Wenn Sie einen Wunsch an die Politik frei hätten – welcher wäre das?
Stenico Eine Sache liegt mir besonders am Herzen: Das Wohl der Patientinnen und Patienten soll bei allem politischen Tauziehen am Ende des Tages an oberster Stelle stehen. Das bedeutet auch, dass der Wert von breitenwirksamen Medikamenten gesehen und geschätzt wird. Antibiotika sind das Rückgrat der modernen Medizin. Ich war gestern in einem Wiener Café und habe für einen Verlängerten mit Milch 6,90 gezahlt. Gehen sie heute in eine Apotheke, dann bezahlen sie für einen Kinder-Antibiotika-Saft weniger. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. 

Sandoz im Überblick
Daten & Fakten

Sandoz ist der weltweit führende Anbieter von Generika und Biosimilars. 22.000 Menschen aus mehr als 100 Nationen arbeiten zusammen, um rund 500 Millionen Patient:innen weltweit mit Medikamenten zu versorgen. Das führende Portfolio von mehr als 1.500 Produkten befasst sich mit Krankheiten von Erkältungen bis hin zu Krebs. Sandoz hat seinen Hauptsitz in Basel, seine Wurzeln reichen bis ins Jahr 1886 zurück. Zu den Durchbrüchen des Unternehmens gehören Calcium Sandoz (1929), das weltweit erste orale Penicillin (1951) und das erste Biosimilar (2006). 2022 erzielte Sandoz einen Umsatz von 9,1 Milliarden US-Dollar.  

AF

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