
Das Gehör ist eines unserer wichtigsten Sinnesorgane – und dennoch wird es oft erst dann aktiv wahrgenommen, wenn es versagt. Weltweit leben immer mehr Menschen mit einer Einschränkung ihres Hörvermögens. Laut Schätzungen der WHO könnte die Zahl hörgeschädigter Menschen bis 2050 auf 700 Millionen ansteigen. In Österreich sind bereits heute in etwa 1,75 Millionen Personen von einer Höreinschränkung betroffen – das entspricht etwa jedem/jeder fünften Einwohner:in.
Der „Ohrinfarkt“ – ein medizinisches Rätsel
Ein Hörsturz – oder akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust, auch vereinfacht als „Ohrinfarkt“ bezeichnet – ist ein drastisches Beispiel für diese Problematik. Es ist ein plötzlich, meist einseitig auftretender Hörverlust ohne erkennbare Ursache und ohne Schmerzempfinden. Die Symptomatik reicht von einer leichten Hörminderung bis hin zur vollständigen Gehörlosigkeit und kann sowohl einzelne Frequenzen als auch das gesamte Hörspektrum betreffen. Betroffene beschreiben das Gefühl oft als ein abruptes „Wegbleiben“ des Hörvermögens, begleitet von einem Druckgefühl oder dem Eindruck, „Watte im Ohr“ zu haben. Bis heute bleibt die genaue Ursache ein Rätsel, und auch therapeutisch stehen bislang keine effektiv wirksamen Optionen zur Verfügung.
Statistisch gesehen erleiden jährlich etwa 20 von 100.000 Menschen einen Hörsturz. Besonders häufig tritt er bei Personen zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr auf, wobei Männer und Frauen bis 65 gleichermaßen betroffen sind (1,1:1). Ab 65 beträgt das Verhältnis Männer zu Frauen in etwa 1,3:1. Zwar tritt bei ca. 60 % der Patient:innen eine vollständige Spontanheilung ein, es kann jedoch auch eine dauerhafte Beeinträchtigung des Hörvermögens bestehen bleiben.
Ursachen & Risikofaktoren

Die genauen Ursachen eines Hörsturzes sind bislang nicht abschließend geklärt. Als mögliche Auslöser werden Durchblutungsstörungen im Innenohr, Virusinfektionen, Gefäßinsuffizienz und Autoimmunerkrankungen diskutiert, aber auch psychosomatische Faktoren wie Stress dürften eine Rolle spielen. Neuere Studien deuten zudem darauf hin, dass auch COVID-19 das Risiko für einen Hörsturz erhöhen kann.
Ein bedeutender Risikofaktor ist Lärmbelastung. Sowohl im beruflichen Umfeld als auch im Privatleben kann intensive Geräuscheinwirkung – sei es durch Maschinen oder laute Musik – die empfindlichen Haarzellen im Innenohr nachhaltig schädigen. Ebenso erhöhen Nikotin- und Alkoholkonsum, Übergewicht sowie bestehende Herz-Kreislauf-Erkrankungen das Risiko, einen Hörsturz zu erleiden.
Auch die Einnahme bestimmter Arzneistoffe kann das Innenohr schädigen und das Risiko für einen Hörsturz erhöhen. Dazu zählen Aminoglykosid-Antibiotika wie Streptomycin und Neomycin, die das Hör- und Gleichgewichtsorgan beeinträchtigen können. Ebenso sind Zytostatika, v. a. platinhaltige Wirkstoffe wie Cisplatin und Carboplatin, für ihre ototoxische Wirkung bekannt. Auch hochdosierte Salicylate (z. B. Acetylsalicylsäure), das Makrolid-Antibiotikum Azithromycin sowie Chinin und dessen Analoga können das Gehör vorübergehend oder dauerhaft schädigen.
Typische Anzeichen eines Hörsturzes
Die Symptome eines Hörsturzes treten meist plötzlich auf und betreffen in den meisten Fällen nur ein Ohr. Typisch ist ein akuter Hörverlust, der von einem Tinnitus und einem unangenehmen Druckgefühl begleitet werden kann. Etwa ein Drittel der Betroffenen klagt zusätzlich über Schwindel. Häufig tritt auch Diplakusis auf – ein Phänomen, bei dem ein Ton auf beiden Ohren unterschiedlich wahrgenommen wird. Ein Hörsturz verläuft in der Regel schmerzlos.
Fortschritte & Herausforderungen in der Therapie
Die Therapie eines Hörsturzes steht weiterhin vor der Herausforderung, dass die wissenschaftliche Datenlage zu vielen Behandlungsmethoden unzureichend ist. Während sich systemische und intratympanale Glucocorticoidgaben (GC) als gängige Ansätze etabliert haben, bleibt deren tatsächliche Wirksamkeit umstritten.
Systemische Glucocorticoidtherapie
Die Behandlung mit systemischen GC gilt weiterhin als Standardtherapie des akuten Hörsturzes, doch aktuelle Studien stellen diese Praxis zunehmend infrage. Die HODOKORT-Studie („HOchDOsis-GlukoKORTikoidtherapie beim Hörsturz“) ist eine groß angelegte, multizentrische, randomisierte, tripelblinde klinische Studie, die die Wirksamkeit und Sicherheit von hochdosierten GC bei der Behandlung des akuten Hörsturzes untersucht. Die Studie verglich die Wirksamkeit verschiedener Dosierungen und Darreichungsformen: hochdosiertes intravenöses Prednisolon (250 mg/Tag), hochdosiertes orales Dexamethason (40 mg/Tag) und niedrig dosiertes orales Prednisolon (60 mg/Tag). Die Ergebnisse zeigten, dass weder eine Hochdosis-Therapie noch eine systemische Verabreichung von GC im Vergleich zur niedrigen Dosierung eine signifikante Verbesserung der Hörschwelle bewirken konnte. Zudem war die Rate der vollständigen Erholung in der Hochdosis-Prednisolon-Gruppe (24 %) geringer als in der Kontrollgruppe mit niedrig dosiertem Prednisolon (39 %). Neben der fehlendenWirksamkeit traten in den Hochdosis-Gruppen häufiger unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf. Trotz dieser Evidenz wird die systemische Therapie aufgrund fehlender besserer Alternativen weiterhin angewendet.
Intratympanale Glucocorticoidtherapie
Die intratympanale GC-Therapie (auch „Salvage-Therapie“, bei der das Steroid direkt ins Mittelohr injiziert wird), stellt eine Alternative oder Ergänzung zu systemischen Glucocorticoiden dar. Ihre Anwendung wird insbesondere bei Patient:innen empfohlen, die auf eine Erstbehandlung mit systemischen Glucocorticoiden nicht ausreichend ansprechen.
Laut aktueller Daten zeigt die intratympanale Therapie in der Primärbehandlung nur geringe Vorteile gegenüber der systemischen Therapie. Bei Patient:innen, die nach einer initialen systemischen Therapie keine signifikante Verbesserung zeigten, führte die intratympanale Gabe jedoch zu einer durchschnittlichen Hörverbesserung von 9 dB im Vergleich zum Placebo. Die Wahrscheinlichkeit einer Hörverbesserung war mehr als fünfmal so hoch wie bei unbehandelten Patient:innen. Auch eine Kombination aus systemischer und intratympanaler Therapie wurde untersucht. Dabei zeigte sich eine zusätzliche Verbesserung der Hörschwelle um 9 dB sowie eine um 27 % höhere Wahrscheinlichkeit einer Hörverbesserung im Vergleich zur alleinigen systemischen Therapie. Da der Unterschied jedoch unter der klinisch relevanten Grenze von 10 dB liegt, bleibt offen, ob dieser Ansatz eine signifikante Verbesserung für die Betroffenen bringt.
Behandlung bei schwerem Hörverlust
Bei Patient:innen mit einem Hörverlust von mehr als 50 dB in den drei am meisten betroffenen Frequenzen wird eine Kombination aus oraler und intratympanaler Therapie empfohlen. In besonders schweren Fällen, bei denen keine messbare Hörverbesserung erzielt wird, können zusätzliche Eingriffe wie eine Tympanoskopie und die lokale Applikation von GC auf resorbierbare Schwämmchen erfolgen.
Kontroverse um durchblutungsfördernde Therapien
Im deutschsprachigen Raum waren durchblutungsfördernde Infusionstherapien wie Pentoxifyllin, Dextran oder Hydroxyethylstärke lange Zeit verbreitet. Die Annahme, dass ein Hörsturz durch eine Durchblutungsstörung des Innenohrs ausgelöst wird, diente als Grundlage für diese Behandlungen. Doch placebokontrollierte Studien zeigten, dass diese Substanzen keinen besseren Effekt auf das Hörvermögen haben als Kochsalzlösung. Aufgrund des Risikos schwerer Nebenwirkungen wird diese Therapieform in den aktuellen Leitlinien nicht mehr empfohlen.
Pflanzliche Alternative

Der Extrakt aus den Blättern des Ginkgo-Baums (Ginkgo biloba) ist bekannt für seine durchblutungsfördernden, antioxidativen und neuroprotektiven Eigenschaften und wird daher häufig als pflanzliche Ergänzung zur Behandlung eingesetzt. Diese Effekte können dazu beitragen, die Mikrozirkulation im Innenohr zu verbessern, freie Radikale zu neutralisieren und auf diese Weise möglicherweise die Regeneration geschädigter Hörzellen zu unterstützen. Die Wirksamkeit von Ginkgo biloba beim Hörsturz bleibt allerdings umstritten, da viele Studien nur eine geringe Teilnehmerzahl umfassen. Aufgrund seiner guten Verträglichkeit wird es jedoch häufig als ergänzende Maßnahme genutzt.
Neue Perspektiven in der Hörsturztherapie
Trotz dieser ernüchternden Erkenntnisse gibt es erfreuliche Fortschritte in der Forschung: Wissenschaftler:innen der MedUni Wien haben im November 2024 einen vielversprechenden neuen Wirkstoff namens AC102 zur Behandlung des akuten Hörsturzes vorgestellt. In präklinischen Studien zeigte AC102 eine entzündungshemmende Wirkung und schützte sowohl die Haarsinneszellen als auch die Hörnerven vor dem Absterben. Diese vielversprechenden Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Wirkstoff nicht nur beim akuten Hörsturz, sondern auch bei anderen Formen des plötzlichen Hörverlusts von Nutzen sein könnte. Die Phase-I-Studie wurde bereits erfolgreich abgeschlossen, und derzeit wird AC102 in der Phase-II-Studie weiter untersucht, um die Wirksamkeit bei Patient:innen zu evaluieren.
Quellen
- Yamada S, et al.: Update on findings about sudden sensorineural hearing loss and insight into its pathogenesis. J Clin Med 2022; 11(21): 6387
- Hirt Z, et al.: Sensorineural hearing loss as a complication of COVID-19 and the COVID-19 vaccine. Cureus 2023; 15(10): e47582
- Harris JP, et al.: Incidence of sudden sensorineural hearing loss. Otol Neurotol 2013; 34(9): 1586–1589
- Lin JRJ, et al.: Systematic review and meta-analysis of the risk factors for sudden sensorineural hearing loss in adults. Laryngoscope 2012; 122: 624–635
- Chaushu H, et al.: Spontaneous recovery rate of idiopathic sudden sensorineural hearing loss: A systematic review and meta-analysis. Clin Otolaryngol 2023; 48(5): 395-402
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