Univ.-Prof. Dr. Anita Weidmann von der Universität Innsbruck führte durch den Tag, die Moderation übernahm Priv. Doz. Dr. Irene Lagoja, aHPh. Am Vormittag wurde das Thema der Evidenzbasierten Medizin (EbM) behandelt, nachmittags stand Deprescribing auf dem Programm.
Zusätzlich bearbeiteten die Teilnehmer:innen fünf Fallbeispiele mithilfe der zur Verfügung gestellten EbM und Deprescribing Links und Tools.
Evidence based Medicine
Weidmann erörterte zunächst die Säulen der EbM, die neben klinischer Expertise und relevanter wissenschaftlicher Evidenz auch die Wünsche und Werte der Patient:innen berücksichtigen sollte und die fünf Schritte der EbM von der Fragestellung bis zur Evaluation.
Das Oxford Center of Evidence Based Medicine (OCEBM), eine aus 25 Expert:innen bestehende Gruppe von Wissenschafter:innen in Großbritannien, unterteilt die Qualitätsstufen medizinischer Evidenz in fünf Hauptqualitätsstufen (siehe Tabelle 1, Seite 104). Auf Stufe 1 und somit der höchsten Evidenzstufe stehen systematische Rewievs von randomisierten klinischen Studien, die geringste wissenschaftliche Evidenz haben Expertenmeinungen.
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) aus Deutschland teilt Leitlinien nach medizinischer Evidenz in die Grade S1, S2k, S2e und S3 ein. Hierbei stellt eine S3-Leitlinie die höchste Stufe medizinischer Evidenz dar und hat alle Elemente einer systematischen Entwicklung durchlaufen, eine S1-Leitlinie wurde von Expertengruppen im informellen Konsens erstellt.
PICO-Fragen
Zur Formulierung einer recherchierbaren Fragestellung und um Ergebnisse möglichst übersichtlich aufzubereiten, wird im Rahmen der evidenzbasierten Medizin häufig die PICO-Fragestellung als Hilfsmittel genutzt. PICO ist ein Akronym für:
- „Patient/Population“ – Patient/Population und sein/ihr Problem
- „Intervention“ – Behandlung
- „Comparison“ – Alternativmaßnahme oder keine Behandlung
- „Outcome“ – Behandlungsziel (z. B. Therapiedauer, Heilung, Symptomkontrolle)
PICO findet z. B. Anwendung bei der Erstellung von systematischen Übersichtsarbeiten bzw. Cochrane Reviews. Die Fragen werden so formuliert, dass ein Kompromiss zwischen dem Wunsch nach bester Information und der Realität nur begrenzt vorhandener Daten geschlossen wird.
In Pubmed kann PICO genutzt werden, indem die verschiedenen Fragestellungen mit AND verbunden gesucht werden. Wir nutzen als Beispiel die Sturzprävention und Vitamin D durch Eingabe von „fall risk AND Vit D AND prevention“. Mit der zusätzlichen Eingabe von „randomi“ erhält man nur Ergebnisse von randomisierten Studien.
Internetlinks
Es wurden darüber hinaus wertvolle Internetlinks zu Übersichten von wissenschaftlichen Datenbanken, Leitlinien, Arzneimittelregister, Interaktionstools und andere Seiten zu speziellen Themen dargebracht, die als Alltagsquellen für Apotheker:innen dienen.
Diese konnten die Teilnehmer:innen zur Ausarbeitung der Fallbeispiele zurate ziehen. Als fragwürdige Quellen wurden Informationsportale von Pharmaherstellern, Publikationsorgane von Standesvertretungen, Lehrbücher und „throwaway journals“ („Wartezimmerjournale“) genannt, da sie entweder profitmotiviert oder oft nicht aktuell sind.
Anhand eines Beispiels (Vitamin-D-Spiegel senkt das COVID-Infektionsrisiko) wurde gezeigt, wie man durch das Sichten mehrerer Quellen und Erkennen der Studienqualität unterscheiden kann, ob eine in der Laienpresse erschienene Meldung evidenzbasiert oder eine kommerzielle Behauptung ist.
Empfehlenswerte Links zu Leitlinien gibt es u. a. unter:
- Österreich: www.arzneiundvernunft.at
- Deutschland: www.awmf.org
- Großbritannien: www.nice.org.uk
Fachorganisationen:
- ESC (European Society of Cardiology)
- GINA (Global Initiative for Asthma)
- GOLD (Global Initiative for COPD)
Deprescribing
Deprescribing beschreibt den Prozess des Absetzens von Medikamenten, um Polypharmazie zu reduzieren und das Outcome zu verbessern.
Hilfestellungskriterien zur Entscheidungsfindung, welche Medikamente abgesetzt werden können, bei welchen potenzielle und manifeste Risiken und Schäden den tatsächlichen oder zu erwartenden Nutzen übersteigen oder wo geeignetere Alternativen vorliegen, bieten diverse Tools bzw. Listen. Hierzu zählen für die ältere Bevölkerungsgruppe (über 65 Jahre) bekannte PIM-Listen (potenziell inadäquate Medikamente) wie die Beers-Kriterien, die STOPP/START sowie die EURO FORTA (Fit FOR The Aged)-Listen. Doch auch bei Patient:innen mittleren Alters (45–64 Jahre) ist Polypharmazie häufig ein Thema, wofür PROMPT (Prescribing Optimally in Middle-aged Peoples Treatments) Kriterien Hilfe bieten.
Level 1a Systematic review of randomised controlled trails
Level 1b Individual randomised controlled trial
Level 2a Systematic review of cohort studies
Level 2b Individual cohort study
Level 2c „Outcomes research“
Level 3a Systematic review of case-control studies
Level 3b Individual case-control study
Level 4 Case series (with or without comparison)
Level 5 Expert opinion
Internationale Projekte
Projekte, wie zum Beispiel das EU-Projekt iSIMPATHY (Implementing Stimulating Innovation in the Management of Polypharmacy and Adherence Through the Years), zielen darauf ab, den besten und nachhaltigsten Einsatz von Arzneimitteln für Patient:innen sicherzustellen, indem Apotheker:innen und andere medizinische Fachkräfte darin geschult werden, Arzneimittelbewertungen durchzuführen und einen gemeinsamen Ansatz für die Behandlung mit mehreren Arzneimitteln zu integrieren.
Erwähnt wurden in diesem Zusammenhang auch die Polypharmazie-Leitlinien der österreichischen Sozialversicherung aus dem Jahr 2014, die auf der Homepage heruntergeladen werden können, sowie der Quick Reference Guide der schottischen Gesundheitsbehörde. In diesem werden u. a. die sieben Schritte zur richtigen Polypharmazie beschrieben (Ziele, Notwendigkeit, Effektivität, Sicherheit, Kosteneffizienz und Patientenadhärenz).
Besonders hervorgehoben wurde die Homepage www.deprescribing.org, eine kanadische Seite der Bruyere Research Gruppe. Auf dieser Homepage sind Algorithmen zum Absetzen u. a. für folgende Arzneimittelgruppen zugängig: Protonenpumpenhemmer, Benzodiazepine und Z-Substanzen, orale Antidiabetika, Antipsychotika und Antidementiva (Cholinesteraseinhibitoren und Memantine).
Im Anschluss wurden noch fünf Fallbeispiele in Kleingruppen bearbeitet, von jeder Gruppe ein Fall präsentiert und die vorgeschlagenen Lösungsvorschläge diskutiert. Die Fallbeispiele umfassten die Medikationslisten, Anamnesen und Laborparameter sowie sonstige Hintergrundinformationen und beinhalteten die üblichen in der Praxis vorkommenden Interaktionen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Sie boten damit viel Stoff für rauchende Köpfe und Diskussionen.
Klinisch-pharmazeutische Dienstleistungen sollten kontinuierlich weiterentwickelt werden, um die Ergebnisqualität für Patient:innen zu verbessern.
Mag. Gerda Kaiser, aHPh
Wiener Gesundheitsverbund
Klinik Ottakring, Wien
Der direkte Kontakt zum Arbeitskreis Krankenhauspharmazie der ÖAZ per E-Mail: arbeitskreis.oeaz@krankenhausapotheke.at. Wir freuen uns über Rückmeldungen und Themenvorschläge.