Apotheker ohne Grenzen

„Ich musste etwas tun“

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Mohammad Hassan Idlebi erklärt mir das verheerende Ausmaß der Zerstörung in Nurdağı. © beigestellt
Mohammad Hassan Idlebi erklärt mir das verheerende Ausmaß der Zerstörung in Nurdağı. © beigestellt

Seit 2020 bin ich Mitglied bei AoG Österreich und seit März dieses Jahres auch Mitglied bei AoG Deutschland. Als angestellte Apothekerin liegt mir die ehrenamtliche Arbeit besonders am Herzen. Es ist mir ein Anliegen, Menschen zu helfen, denen der Zugang zu pharmazeutisch-medizinischer Versorgung erschwert wird, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Sprache und Religion. 

Rasch füllte ich die beigefügte Einsatzkräfteabfrage aus und gab Auskunft über meine Sprachkenntnisse, allgemeinen Impfstatus, Datum der absolvierten Einsatzkräfteschulungen und bereits vorhandene Einsatzerfahrungen. 

Projektpartner MAPS 

Nachdem ich beide Teile der Einsatzkräfteschulung von Apotheker ohne Grenzen absolviert und im März sowie im April 2022 zwei Arzneimitteltransporte in die Ukraine begleitet hatte, konnte ich als „erfahrene Einsatzkraft“ eingestuft werden. Ein erstes Einsatzteam von AoG Deutschland reiste bereits am folgenden Wochenende nach den Erdbeben in die Türkei und widmete sich dem sogenannten Fact-Finding. Dabei wird die Lage vor Ort evaluiert und gemeinsam mit dem regionalen Katastrophenschutz beurteilt, an welchen Standorten noch pharmazeutische und medizinische Hilfeleistungen benötigt werden. Genau einen Monat später, am 8. März, bekam ich eine Anfrage von AoG Deutschland, ob ich für eine kurze Projektreise mit einer zweiten Kollegin nach Gaziantep (Türkei) zur Verfügung stünde. Hierbei handelte es sich nicht um einen Nothilfeeinsatz, sondern um die Planung eines Langzeitprojekts mit der türkischen Organisation MAPS (Multi-Aid Programs) in Nordsyrien. Da die Einreise für Einsatzkräfte von AoG als NGO (non governmental organisation) in syrische Gebiete zu diesem Zeitpunkt aufgrund der politischen Lage nicht möglich war, musste das Projekt von türkischer Seite aus koordiniert werden.

Ausklang eines langen Tages beim gemeinsamen Abendessen in einem türkischen Restaurant, von rechts nach links: Ahmad Allababidi, Mohammad Hassan Idlebi, Luise Marenbach © beigestellt
Ausklang eines langen Tages beim gemeinsamen Abendessen in einem türkischen Restaurant, von rechts nach links: Ahmad Allababidi, Mohammad Hassan Idlebi, Luise Marenbach © beigestellt
Zerstörte private Medikamente zwischen Gebäudetrümmern in Kahramanmaraş. © beigestellt
Zerstörte private Medikamente zwischen Gebäudetrümmern in Kahramanmaraş. © beigestellt
Ahmad Allababidi und ich im Austausch über mögliche Langzeitprojekte. © beigestellt
Ahmad Allababidi und ich im Austausch über mögliche Langzeitprojekte. © beigestellt
Blick auf die Stadt Nurdağı. Die Leute leben zurzeit in Zelten oder Containern – quasi eine Stadt vor der zerstörten Stadt. © beigestellt
Blick auf die Stadt Nurdağı. Die Leute leben zurzeit in Zelten oder Containern – quasi eine Stadt vor der zerstörten Stadt. © beigestellt
Luise und ich blicken auf die zerstörten Wohngebäude in Nurdağı. © beigestellt
Luise und ich blicken auf die zerstörten Wohngebäude in Nurdağı. © beigestellt
Ein Zeltlager in Kahramanmaraş: hier sind noch  keine Container angekommen und die Menschen leben in teils schlecht ausgestatteten Zelten. © beigestellt
Ein Zeltlager in Kahramanmaraş: hier sind noch keine Container angekommen und die Menschen leben in teils schlecht ausgestatteten Zelten. © beigestellt
Ahmad Alababidi besucht für AoG Deutschland den Großhandel in Idlib (Syrien), von dem die Arzneimittel bezogen werden. Er überprüft die Temperatur, Feuchtigkeitsgehalt und die Lagerung der Arzneimittel. © beigestellt
Ahmad Alababidi besucht für AoG Deutschland den Großhandel in Idlib (Syrien), von dem die Arzneimittel bezogen werden. Er überprüft die Temperatur, Feuchtigkeitsgehalt und die Lagerung der Arzneimittel. © beigestellt
Meeting im Office von MAPS Türkei, von rechts nach links: Abdurrahman Alhafez, Procurement Koordinator für Syrien, Mohammad Hassan Idlebi, Geschäftsführer, Ahmad Allababidi, Vorstandsmitglied © beigestellt
Meeting im Office von MAPS Türkei, von rechts nach links: Abdurrahman Alhafez, Procurement Koordinator für Syrien, Mohammad Hassan Idlebi, Geschäftsführer, Ahmad Allababidi, Vorstandsmitglied © beigestellt
Zelte und Familien vor den zerstörten Gebäuden in Nurdağı. © beigestellt
Zelte und Familien vor den zerstörten Gebäuden in Nurdağı. © beigestellt


Perfekt organisiert

Nachdem der genaue Einsatzzeitraum feststand, konnte ich mit meinem Chef meine freien Tage in der Apotheke vereinbaren. Es ist nicht selbstverständlich, dass dies so spontan möglich ist. Daher möchte ich ein großes Dankeschön an die Apotheke im Zentrum in Seiersberg aussprechen.

AoG Deutschland hatte mit MAPS eine Spende im Wert von 70.000 Euro für die pharmazeutische Hilfe von Erdbebenopfern in Nordsyrien festgelegt und eine genaue Liste an lebensnotwendigen Medikamenten und medizinischem Bedarfsmaterial ausgearbeitet. Diese werden an zehn syrische Kliniken bzw. medizinische Zentren verteilt. Ziel unserer Reise als Einsatzkräfte für AoG war somit das Kennenlernen unseres Projektpartners MAPS in der Türkei. Darüber hinaus hatten meine Kollegin und ich den Auftrag, ein besseres Verständnis für den Beschaffungs- bzw. Verteilungsprozess der Medikamente in den syrischen Krisengebieten sowie Einhaltung von Qualitätsstandards bei der Produktion und Lagerhaltung vor Ort zu bekommen. Keine zwei Wochen später trat ich die Reise nach München an, um ein Briefing von der Geschäftsführerin von AoG Deutschland, Eliette Fischbach, zu unserem Vorhaben in Gaziantep zu bekommen und meine Projektkollegin Luise Marenbach, Apothekerin in Koblenz, kennenzulernen. Luise und ich hatten von Anfang an einen guten Draht zueinander und konnten in den folgenden Tagen so manche Höhen und Tiefen gemeinsam meistern. Die Organisation von Flügen und Unterkünften übernahm unsere Projektkoordinatorin Charlotte Dette, Pharmazeutin, von der Geschäftsstelle von AoG Deutschland aus. Am nächsten Tag ging es für uns früh morgens mit dem Flugzeug von München über Istanbul nach Gaziantep in Südostanatolien, Türkei.

Starker Zusammenhalt

Auf dem Flug von Istanbul nach Gaziantep sprach mich mein Sitznachbar auf das AoG-Logo meines T-Shirts an und wir kamen ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass der Herr neben mir der Geschäftsführer der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion ist, der mit seinem Einsatzteam auf dem Weg in die von Erdbeben betroffenen Gebiete war. Dort sollten vor Beginn des Ramadans große Zelte aufgebaut werden, um das gemeinschaftliche Abendessen (Iftār) für alle Menschen zu ermöglichen. Bereits im Flugzeug wurde mir bewusst, dass viele Gäste an Bord auf dem Weg in ihre alte Heimat waren, um ihrer Verwandten zu gedenken und den überlebenden Familienmitgliedern beizustehen. Wir hörten auch die Geschichte einer in Deutschland wohnhaften türkischen Frau, die im Flugzeug neben Luise saß. Sie verlor 14 ihrer engen Verwandten beim Erdbeben in Kahramanmaraş. Unter Tränen lud sie uns zum gemeinsamen Gebet vor den Trümmern ihres früheren Hauses ein. Im Laufe meiner Reise zeigte sich, dass gerade in Zeiten großen Leids die Tradition und der Glaube den Menschen Halt und Zuversicht schenken.

Nachbeben hautnah erlebt

Am Flughafen von Gaziantep wurden wir von unseren Projektpartnern der Organisation MAPS, Mohammad Hassan Idlebi, Geschäftsführer von MAPS, und Ahmad Allababidi, Vorstandsmitglied von MAPS, begrüßt und in unsere Unterkunft gebracht. Die Ärzte aus Syrien studierten gemeinsam zu Beginn des Bürgerkriegs 2011 in Damaskus Medizin. Schnell wurde mir klar, dass wir mit unglaublich engagierten und sehr gastfreundlichen Kooperationspartnern zusammenarbeiten dürfen. Am nächsten Morgen starteten wir gleich mit dem ersten Meeting im Büro von MAPS und bekamen eine ausführliche Einführung in den Aufbau der Organisation, deren Aufgabenbereiche und aktuelle Projekte. An dieser Stelle möchte ich meine Bewunderung für die Arbeitsweise unserer Partnerorganisation festhalten. MAPS hat als eines ihrer Grundprinzipien die Hilfe zur Selbsthilfe und somit einen nachhaltigen Einfluss auf die syrische Bevölkerung. Durch zahlreiche Überschneidungen in unserer Arbeitsweise konnten wir auch mit der Planung von zukünftigen Langzeitprojekten beginnen. Am 23. März konnten wir die Auswirkungen eines Nachbebens der Stärke 5,3 in Gaziantep spüren. Wir befanden uns gerade im Büro bei einer Besprechung. Daraufhin erklärte uns einer der Mitarbeiter von MAPS, dass solche kurzen Nachbeben momentan bis zu vierzig Mal täglich passieren. Trotzdem kann ich mir nur schwer vorstellen, wie sich das Erdbeben der Stärke 7,8 angefühlt haben muss, bei dem in zwei Minuten ganze Städte zerstört und die Existenzen von tausenden Menschen ausgelöscht wurden. Mohammad und Ahmad brachten uns an den Nachmittagen in zwei von Erdbeben betroffene Gebiete, Nurdağı und Kahramanmaraş. Nurdağı ist eine Stadtgemeinde ungefähr 60 km westlich in der Provinz Gaziantep. Hier müssen alle Häuser abgerissen, der ganze Ort neu aufgebaut und die Bevölkerung in Zeltlagern untergebracht werden. Menschen standen mit Gebetsketten in der Hand auf den Trümmern ihrer ehemaligen Wohnungen und harrten aus, bis Bagger die Körper ihrer verschütteten Verwandten freilegten. Wird ein Leichnam geborgen, muss die örtliche Polizei die Person identifizieren, die danach bestattet werden kann. Die Aufräumarbeiten werden noch mehrere Wochen in Anspruch nehmen.

Containerstädte helfen in der Not

Während des Wiederaufbaus der Häuser werden Containerstädte errichtet, um den Menschen mehr Sicherheit, Wohnraum und Privatsphäre zu gewährleisten. Dieser Vorgang geht nicht in allen Städten gleich schnell, wie wir in Kahramanmaraş, einer Provinz ungefähr 80 km von Gaziantep entfernt, feststellten. Hier mangelt es noch an sicheren Behausungen und lebensnotwendigen Hilfsgütern.

Am letzten Abend unseres Aufenthalts luden uns Mohammad und Ahmad in das Tahmis Kahvesi ein, das älteste Kaffeehaus Gazianteps, das 1635 eröffnet wurde und das Erdbeben unbeschadet überstanden hat. Wir ließen gemeinsam die geführten Gespräche und unsere Eindrücke Revue passieren und konnten mit einigen Ideen für die Zukunft unsere Projektreise abschließen. Am nächsten Tag traten wir früh morgens die Rückreise in unsere Heimat an. Aufgrund der durchaus chaotischen Verkehrsverhältnisse auf Gazianteps Straßen ließen es sich Mohammad und Ahmad nicht nehmen, uns mit dem Auto zum Flughafen zu fahren und dort mit regionalen Spezialitäten aus der Türkei persönlich zu verabschieden. So traurig der Anlass unseres Zusammentreffens in Gaziantep auch war, so bereichernd war der Austausch mit unserer Partnerorganisation vor Ort. Ich durfte vielen persönlichen Geschichten von Mohammad und Ahmad zuhören und über die schwere humanitäre Krise aufgrund des nun schon zwölf Jahre andauernden Bürgerkriegs in Syrien lernen. Der Einsatz von MAPS in Syrien ist breit gefächert und gerade wegen des persönlichen Bezugs der Gründungsmitglieder so unermüdlich, damit die Lebensumstände für die syrische Bevölkerung nachhaltig verbessert werden können.

Ich freue mich, weiterhin als ehrenamtliches Mitglied von AoG Österreich die Freundschaft mit unseren deutschen Projektpartnern zu vertiefen und gemeinsam langfristige Projekte zu verwirklichen.

Text: Mag. pharm. Cornelia Fasching

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