Diabetisches Fußsyndrom 

Kleine Verletzungen mit verheerenden Folgen

Mag. pharm. Dr. Birgit  Zonsics
Artikel drucken
Diabetisches Fußsyndrom © Shutterstock
© Shutterstock

Dem DFS liegen meist eine diabetische Neuropathie oder eine diabetische Angiopathie zugrunde. Auch Mischformen der beiden sind häufig. Es kommt immer wieder zur Traumatisierung des Gewebes, da bei diabetischer Polyneuropathie die Empfindungswahrnehmung stark eingeschränkt sein kann, jedoch meist Fehlstellungen am Fuß ausgebildet sind, die zu Druckstellen führen. In vielen Fällen liegt außerdem eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) vor, die manchmal unerkannt bleibt. Die Unterversorgung des Fußes kann zu einem erhöhten Risiko für lokale Knochenbrüche führen, wie sie beim Charcot-Syndrom vorliegen. Aufgrund der Minderdurchblutung sind etwaige Wunden, die durch Gefühllosigkeit am Fuß entstehen, nicht ausreichend versorgt, um selbstständig abzuheilen (siehe Abbildung).


Rechtzeitig vorsorgen

Ca. 68 % aller Amputationen werden bei Personen mit Diabetes mellitus durchgeführt.1 Umso wichtiger sind die Erhaltung des Gewebes und die konsequente Pflege der Wunden. Oft ist dies aufgrund der Polyneuropathie schwierig, da es bei Patientinnen und Patienten zum sogenannten „Leibesinselschwund“ kommen kann: Sie spüren die Gliedmaßen nicht mehr und nehmen diesen Teil des Körpers nicht mehr als zugehörig wahr. Sinnbildlich ist dies das Gegenteil von Phantomschmerz. Daher spielt bei Diabetikerinnen und Diabetikern neben der eigentlichen Behandlung des Diabetes mellitus die Kontrolle und Pflege der Füße eine wichtige Rolle, um bei einer drohenden oder bereits bestehenden Polyneuropathie oder Durchblutungsstörung die Funktion der Füße zu erhalten. 

Teils behebbare Risikofaktoren

Primär sollte die Ursache, nämlich der erhöhte Blutzuckerspiegel, behandelt werden. Ein HbA1c-Wert zwischen 6,5 und 7,5 % (je niedriger, desto besser) ist anzustreben. Risikofaktoren, ein DFS zu entwickeln, sind Neuropathie (sensorisch – Gefühllosigkeit, motorisch – Fehlansteuerung und Krampfhaltungen, autonom – Störung der Schweißsekretion bzw. Durchblutung), periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), eingeschränkte Beweglichkeit der Gelenke, Hornhautschwielen als Folge von Druckfehlbelastungen (z. B. durch ungeeignetes Schuhwerk, Fuß- und/oder Zehenverformungen, Adipositas) und biopsychosoziale Faktoren.1 Erschwerend kommen bei bereits Betroffenen Faktoren wie Minderdurchblutung durch Rauchen oder Mikronährstoffmangel durch Fehlernährung hinzu. 

Praxistipp
… zeigt her eure Schuh‘!
  • Auf hellen Socken ist Blut oder Sekret gut erkennbar und zeigt somit frische Verletzungen an. 
  • Ein Vergrößerungsspiegel mit Teleskopstange ermöglicht es auch bewegungseingeschränkten Patientinnen und Patienten, die tägliche Begutachtung der Füße selbst durchzuführen.
  •  Schuhe sollten vor dem Tragen auf Fremdkörper kontrolliert und präventiv ausgeleert werden. 


Sonographie und Angiographie geben Aufschluss

Sind bereits Veränderungen an den Füßen aufgetreten bzw. besteht schon eine Polyneuropathie, sollte besonders die Prävention von Verletzungen und Wunden im Vordergrund stehen. Die routinemäßige Fußuntersuchung spielt dabei eine große Rolle. Dabei wird auf Empfindlichkeit getestet (z. B. Rydell-Seiffer-Stimmgabel-, Mikrofilament-Test) und eine eingehende Begutachtung (Schwielen, Schweißsekretion, Durchblutung, Hautfärbung etc.) durchgeführt. Besteht bereits eine offene Wunde, muss bei Verdacht auf pAVK umgehend die Durchblutung überprüft werden. Dies erfolgt mittels apparativer und bildgebender Diagnostik (z. B. farbkodierte Duplexsonographie sowie angiographische Methoden inkl. der CO2-Angiographie). Daraus ergibt sich die Antwort auf die drei wichtigsten Fragen bei DFS: Warum besteht ein Ulcus? Warum an dieser Stelle? Warum heilt es nicht ab? 

Zeigt her eure Füße …

Werden bei der Untersuchung verhornte Schwielen sichtbar, sollten diese fachkundig und schonend entfernt werden. Blasen können mit geeignetem Schuhwerk und eng anliegenden nahtlosen Socken vermieden werden. Nägel werden glatt abgefeilt, einem Einwachsen sollte vorgebeugt werden. Hat sich bereits ein Nagel- oder Fußpilz ausgebreitet, ist dieser umgehend zu behandeln. Keinesfalls dürfen spitze oder scharfe Gegenstände verwendet werden (Scheren oder Hornhauthobel). Fußbäder sind kontraindiziert, da sie die Haut aufweichen und dadurch die Gefahr von mikrobiologischem Befall in unbemerkten Furchen besteht. Bei vermeintlich kalten Füßen führen Heizkissen oder Thermophore oft zu Verbrennungen, da die Temperaturwahrnehmung gestört ist. Wenn bei Fußfehlstellungen und konsequenter Behandlung trotzdem immer wieder kleine Ulcera auftreten, kann überlegt werden, die Fußfehlstellung als Sekundärprophylaxe chirurgisch zu beheben. Die meisten dieser Maßnahmen werden im Rahmen einer diabetischen Fußpflege abgedeckt. Jegliche Veränderung am Fuß muss mit einer Ärztin/einem Arzt abgeklärt werden, die/der podologische oder orthopädische Interventionen vermitteln kann.

Den Druck wegnehmen

Alle Maßnahmen zur Behandlung des DFS zielen darauf ab, die Betroffenen möglichst rasch und nachhaltig unter größtmöglicher Wiederherstellung der Gehfähigkeit und bei bestmöglicher Lebensqualität wieder „auf die Beine“ zu bekommen. Schmerzlinderung bei Behandlungen und im Alltag ist dabei ein wichtiger Aspekt, der die Compliance fördern kann. Aufklärung der Patientinnen und Patienten und deren Mithilfe kann besonders bei der Sekundärprophylaxe hilfreich sein. 

Wie in der Abbildung dargestellt, kommt es zu Beginn des DFS zu Druckstellen oder Blasen. Sollten geeignete Schuhe und vorbeugende Maßnahmen nicht gefruchtet haben und ein Ulcus entstanden sein, ist das Mittel der ersten Wahl für alltagstaugliche effektive Druck- und Schwerkraftentlastung eine nicht abnehmbare kniehohe Entlastungsorthese, ein so genannter „total contact cast“ (TCC). Sollte dies nicht praktikabel sein, wird eine kniehohe abnehmbare Entlastungsmaßnahme einer knöchelhohen vorgezogen. Sollte keine der Maßnahmen durchführbar sein, können gemeinsam mit den richtig angepassten Schuhen Filzplatten zur Entlastung verwendet werden. Bei Ulzerationen, die nicht auf der Fußsohle lokalisiert sind, können auch spezielle Schuhe angefertigt werden. Zuletzt stellen auch chirurgische Maßnahmen zur Druckentlastung (z. B. Korrekturen von Fehlstellungen) eine mögliche Behandlungsoption dar – oft als Sekundärprophylaxe, um neue Ulcera zu verhindern. Außerdem ist die Kontrolle und ggf. Entfernung von Schwielen ein Muss zur Prävention und Behandlung des DFS. 

Hornhautschwielen durch ungeeignetes Schuhwerk, Fuß- und/oder Zehenverformungen und Adipositas sind nur einer der Risikofaktoren des DFS. © Shutterstock
Hornhautschwielen durch ungeeignetes Schuhwerk, Fuß- und/oder Zehenverformungen und Adipositas sind nur einer der Risikofaktoren des DFS. © Shutterstock


Hartnäckige Wunden

Bei diabetischen Ulcera ist die stadiengerechte Wundreinigung der Grundpfeiler der Therapie. Gereinigt wird meist mit desinfizierenden Wundspüllösungen und sterilen Kompressen. Der Wundverband zur feuchten Wundheilung sollte der Größe der Wunde und der Exsudatmenge angepasst sein. Heilen die Wunden trotz optimaler Wundversorgung nach 4–6 Wochen nicht zufriedenstellend, können je nach Typ z. B. ein mit Saccharoseoctasulfat imprägnierter Verband, ein autologes Leukozytenpräparat, Plazentamembran-Allotransplantate oder systemische hyperbare Sauerstofftherapie in Erwägung gezogen werden. Verbände mit antimikrobieller Silberbeschichtung haben lt. aktueller Studienlage keinen zusätzlichen Nutzen und können durch kostengünstigere Varianten ersetzt werden. Nicht verklebende Verbände können für die Betroffenen je nach Sensibilität eine besonders schmerzarme Wundversorgung gewährleisten.

Bei pAVK ist zuerst auf eine Revaskularisierung der Wundbereiche zu setzen, da ohne ausreichende Durchblutung die Wunde nicht abheilen kann. Diese kann mittels Katheter, Stent oder Bypass erfolgen. 

Aus Alt macht Neu

Débridement bezeichnet die Entfernung von abgestorbenem Gewebe aus der Wunde und Sanierung des Wundgrundes. Es kann entweder mechanisch, z. B. mit sterilen Kompressen, chirurgisch, enzymatisch, mittels eines Hydrogels, ultraschallbasiert oder mit hochdruckbeschleunigter Ringerlösung durchgeführt werden. Auch Madentherapie (z. B. mit Fliegenmaden der Gattung Lucillia sericata) steht mittlerweile zur Verfügung.

Bei Abszessen und Phlegmonen kann ein ausgeprägtes chirurgisches Débridement bis hin zur Amputation von Zehen oder Fußteilen nötig werden. Im Anschluss kann dann mit einer VAC-Therapie die Heilung unterstützt werden. Dabei wird die Wunde mit Unterdruck behandelt.8

Wachsamkeit zahlt sich aus

Oft sind die Wunden (oder der Fuß in der Nähe des Wundbereichs) mit Mikroorganismen infiziert. Nach Schweregrad geordnet, können im Randbereich einer Wunde infizierte Stellen entstehen, dann großflächige Abszesse, dann nekrotisierende Phlegmonen bis hin zur lebensbedrohlichen Sepsis. Infizierte Wunden sind mit einem stark erhöhten Amputationsrisiko verbunden. Dabei können einfache Probleme wie ein eingewachsener Nagel, Risse in der Hornhaut und eine Pilzinfektion zwischen den Zehen Türöffner für bakterielle Infektionen sein. Bei pAVK treten vermehrt Gangräne auf. Initial wird meist ein systemisches Antibiotikum gegen Staphylokokken und Streptokokken verschrieben und bei mangelndem Ansprechen oder Verschlechterung dann nach einem Wundabstrich und Antibiogramm die Therapie adäquat angepasst. 

Regelmäßige Fußinspektion ist ebenso essenziell wie die sorgfältige Fußpflege, denn bereits Banalitäten wie ein eingewachsener Nagel oder Risse in der Hornhaut öffnen bakteriellen Infektionen Tür und Tor. © iStock
Regelmäßige Fußinspektion ist ebenso essenziell wie die sorgfältige Fußpflege, denn bereits Banalitäten wie ein eingewachsener Nagel oder Risse in der Hornhaut öffnen bakteriellen Infektionen Tür und Tor. © iStock


Letzter Ausweg Amputation

Bei stark fortgeschrittener Infektion, Nekrose und Beteiligung von tieferliegendem Gewebe wie Gelenken oder Knochen bleibt oft nur die Amputation als letzter Ausweg, um möglichst große Teile des Beins und Fußes zu retten. Werden einzelne Zehen oder Teile des Gewebes an der Ferse abgenommen, spricht man von kleineren Amputationen oder sogar von radikalem chirurgischen Débridement. Majoramputationen sollten möglichst mit den obenstehenden Präventions- und Pflegemaßnahmen vermieden werden. Vor einer Amputation wird dringend empfohlen, eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen. Nach einer Amputation hat sich die Vakuumtherapie für eine raschere Wundheilung bewährt.8

In der Apotheke sollten Betroffene auf den Stellenwert der präventiven Maßnahmen und des bestmöglichen Blutzuckermanagements hingewiesen und mit kleinen Tipps für die Praxis unterstützt werden. Auch kleine, harmlose Wunden sollten bei Diabetikerinnen und Diabetikern unbedingt ernst genommen und die Betroffenen rasch an eine/n Spezialistin/Spezialisten verwiesen werden. So kann bei rechtzeitiger Intervention vielleicht ein Zeh oder gar ein Bein gerettet werden. 

Quellen

1 Morbach S et al. Diabetologie 2022; 17 (Suppl 2): S365–S375
2 Rümenapf et al. Diabetisches Fußsyndrom – Teil 1 Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Klassifikation, Kommission PAVK und Diabetisches Fußsyndrom der DGG e. V, Chirurg 2021 · 92:81–94, https://doi.org/10.1007/s00104-020-01301-9
3 Rümenapf et al. Chirurg 2021 · 92:81–94 doi:10.1007/s00104-020-01301-9 abgerufen am 2.4.2023
4 Rümenapf et al. Diabetisches Fußsyndrom – Teil 2 Revaskularisation, Behandlungsalternativen, Versorgungsstrukturen, Rezidivprophylaxe, Kommission PAVK und Diabetisches Fußsyndrom der DGG e. V, Chirurg 2021 · 92:173–186 doi:10.1007/s00104-020-01313-5 
• Leitlinien & Praxisempfehlungen. Deutsche Diabetes Gesellschaft. Lokaltherapie chronischer Wunden bei Patientenmit den Risiken periphere arterielle Verschlusskrankheit, Diabetes mellitus, chronische venöse Insuffizienz Stand: 12.06.2012 

Weitere Literatur auf Anfrage 

Das könnte Sie auch interessieren