kindermedika.at

Mehr Sicherheit bei der Arzneimitteltherapie für Kinder

Verena Radlinger
Artikel drucken
Eine Mutter verabreicht ihrem Kind ein Medikament © Shutterstock
Noch immer gibt es für viele Arzneimittel keine systematische Prüfung und Zulassung für Kinder und Jugendliche. © Shutterstock

Kindermedika.at hat sich zum Ziel gesetzt, die Arzneimitteltherapie von Kindern und Jugendlichen in Österreich zu verbessern und v. a. sicherer zu machen. Das Projekt der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) begann 2019 mit dem Aufbau einer Datenbank. Diese zweijährige Aufbauphase wurde aus den „gemeinsamen Gesundheitszielen aus dem Pharma-Rahmenvertrag“ und Eigenmitteln der ÖGKJ gefördert. Der öffentliche Launch von kindermedika.at ist mit April 2021 erfolgt. In der Erhaltungsphase, in der die Inhalte ständig erweitert und aktuell gehalten werden, wird das Projekt vom Dachverband der Sozialversicherungsträger unterstützt.

Hintergrund

Noch immer gibt es für viele Arzneimittel keine systematische Prüfung und Zulassung für Kinder und Jugendliche. Folglich werden für Kinder erforderliche Arzneimittel häufig off-label verschrieben. In dieser Situation fehlen kinderspezifische Darreichungsformen sowie altersentsprechende Dosierungsempfehlungen und weitere therapie-relevante Informationen in der Fachinformation. Solche Informationen sind oftmals nur schwierig in der wissenschaftlichen Literatur zu finden. Diese Off-label-Anwendungen sind häufig die einzige Möglichkeit, Kinder und Jugendliche mit einer adäquaten Therapie zu versorgen, können aber das Risiko für Nebenwirkungen und Medikationsfehler erhöhen.

Fokus auf Dosierung nach bestverfügbarer Evidenz

Auf der Plattform kindermedika.at sind Informationen zur Arzneimitteltherapie für alle Nutzer:innen kostenlos zugänglich. Im Besonderen findet man auf der Website altersentsprechende Dosierungsempfehlungen, die nach bestverfügbarer Evidenz sowie mit nationalen und internationalen Empfehlungen abgestimmt sind. Durch systematische Information sollen die Wirksamkeit der Arzneimitteltherapie bei Kindern und Jugendlichen optimiert und das Risiko für unerwünschte Arzneimittelreaktionen und Medikationsfehler minimiert werden. Der Kern der Datenbank sind Dosierungsempfehlungen für Früh-, und Neugeborene, Kinder und Jugendliche. Außerdem sind kinderspezifische unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Warnhinweise und Kontraindikationen sowie Informationen zum Zulassungsstatus und in Österreich verfügbaren Darreichungsformen enthalten. Das Besondere von kindermedika.at ist, dass Informationen auch für die Off-label- Anwendung enthalten sind, wenn diese für Kinder erforderlich ist. Die Informationen beruhen auf den besten verfügbaren Informationen: d. h. – sofern für Kinder zugelassen –, auf der Fachinformation; wenn nicht zugelassen, auf den verlässlichsten Daten aus der Literatur. „Damit wird auch die Off-Label-Anwendung so sicher wie möglich“, sagt Initiator und Projektleiter  Univ.-Prof. Dr. Christoph Male-Dressler, MSc, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde und klinischer Epidemiologe an der Medizinischen Universität Wien. Unterstützt wird er von Mag. pharm. Christina Gradwohl und Mag. pharm. Dr. Barbara Strommer, Apothekerinnen und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen. Leiter des österreichischen Expertengremiums ist Priv.-Doz. Dr. Florian Lagler, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde und Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie von der Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg. Derzeit können Ärztinnen und Ärzte sowie Apotheker:innen auf dieser Plattform Informationen über mehr als 270 häufig für Kinder und Jugendliche verschriebene Medikamente abrufen.

Internationale Kollaborationen

kindermedika.at baut auf den Inhalten des etablierten niederländischen kinderformularium.nl auf. Von diesem ausgehend hat sich eine internationale Kollaboration mit derzeit drei weiteren europäischen Ländern entwickelt, die zum Aufbau von länderspezifischen Kinderformularien in Deutschland, Österreich und Norwegen geführt hat. Die Zusammenarbeit beruht auf einem nicht profitorientierten Lizenzmodell, bei dem die nationalen Formularien die Inhalte und die IT- Plattform von kinderformularium.nl nützen. Es gibt eine zentrale internationale Datenbank, deren Inhalte – vorrangig die evidenzbasierten Dosisempfehlungen – für alle vier Formularien konsistent sind, während länderspezifische Inhalte in den jeweiligen nationalen Formularien enthalten sind.

Der Inhalt einer Arzneimittel-Monographie basiert auf einer systematischen Recherche und kritischen Beurteilung sämtlicher verfügbarer Informationen von Zulassungsdaten, Daten aus akademischen Studien, nationalen und internationalen Fachempfehlungen, klinischen Erfahrungsberichten und Expertenkonsensus. Die Bewertung der verfügbaren Evidenz wird mit einer Risiko-Benefit-Analyse (RBA) dokumentiert, die eine kritische Bewertung der Daten vornimmt und Vorschläge zu Dosierungsempfehlungen nach Indikation und Altersgruppen entwickelt. Evidenz und Empfehlungen werden von einem multidisziplinären Editorial-Board geprüft und freigegeben. Für kindermedika.at werden die Inhalte der Datenbank an den österreichischen Bedarf bzgl. „Verschreibepraxis“ und Verfügbarkeit von Medikamenten angepasst. Am Ende einer jeden Monographie sind die Literaturquellen, auf denen die Empfehlungen basieren, transparent referenziert.

„Die Plattform kindermedika.at ist ein perfektes Beispiel für den Einsatz von neuen Technologien, um mehr Service, Sicherheit und Transparenz zu schaffen. Sie bietet systemisch erfasste, verlässliche und aktuelle Informationen zur Medikamentenverschreibung für Kinder und Jugendliche und unterstützt damit die Kinderärzte und -ärztinnen, Therapeut:innen und Apotheker:innen“, sagt Peter Lehner, Vorsitzender der Konferenz der Sozialversicherungsträger. Digitalisierung und verantwortungsbewusste Datennutzung seien die Basis für ein modernes Gesundheitssystem.

Interview mit Univ.-Prof. Dr. Christoph Male-Dressler, MSc: Die Anfänge im Überblick

Univ.-Prof. Dr. Christoph Male-Dressler © Wien-Matern
Univ.-Prof. Dr. Christoph Male-Dressler © Wien-Matern

ÖAZ Was war die Motivation für den Start des Projekts?

Univ.-Prof. Dr. Christoph Male-Dressler, MSc Als Kinderarzt an der Uniklinik in Wien kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass es für die Arzneimitteltherapie von Kindern schwierig ist, verlässliche Informationen zu finden. Es gab bislang kein verlässliches und aktuelles Nachschlagewerk für Kinder, vor allem weil existierende Arzneimitteldatenbanken nur Informationen zu zugelassenen Therapien enthalten. Wir müssen Kinder oft außerhalb der Zulassung behandeln, was bislang häufig nur auf praktischen Erfahrungswerten der Verschreibenden beruhte. Das führte aber zu einer Variabilität der verwendeten Dosierungen, woraus sich ein hohes Risikopotenzial ergibt. Wir Kinderärzte und -ärztinnen sind es gewohnt, vorsichtig zu sein, und unsere kleinen Patient:innen genau auf Wirkung und Nebenwirkungen zu beobachten. Aber das ist in Wirklichkeit nicht mit einer evidenzbasierten Arzneimitteltherapie vergleichbar. Es gibt zwar oft Daten aus akademischen Studien, aber diese zu überblicken und zu bewerten, ist für Kinderärzte und -ärztinnen in der Praxis kaum möglich.

ÖAZ Was sind die größten Herausforderungen?

Male-Dressler Wir werden immer Arzneimittel und Therapien haben, bei denen es nur wenige Daten für Kinder und Jugendliche gibt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es sehr schwierig ist, Studien mit Kindern zu machen, besonders bei Kleinkindern und Säuglingen. Inzwischen sehen die gesetzlichen Rahmen­bedingungen vor, dass neue Medikamente auch bei Kindern getestet und zugelassen werden. Das ist aber für manche Indikationen und Altersgruppen schwierig, und es können nicht immer solide Daten generiert werden. Zudem haben wir noch die Altlast von Medikamenten, die seit Jahrzehnten bei Kindern verwendet werden, für die neue Studien kaum machbar sind. Daher wird Off-label-Anwendung bei Kindern immer not­wendig sein.

ÖAZ Wie konnten Sie das schließlich bewerkstelligen?

Male-Dressler Wir haben lange vergebens an den verschiedensten Stellen versucht, Interesse für das Problem der Arzneimittelversorgung von Kindern zu wecken und eine Finanzierung für kindermedika.at zu bekommen. Ein großer Dank gilt daher dem Dachverband der Sozialversicherungsträger, der den Wert von kindermedika.at erkannt hat und das Projekt vom Start und nun auch für die nächsten fünf Jahre unterstützt.

ÖAZ Wie wird kindermedika.at angenommen?

Male-Dressler Wir beobachten die Zugriffszahlen auf Kindermedika.at, die im ersten Jahr durchschnittlich 80 bis 100 Besucher:innen pro Tag ausgemacht haben. Durch weitere Öffentlichkeitsarbeit und auch durch Mundpropaganda von Nutzerinnen und Nutzern wollen wir die Nutzung kontinuierlich steigern. Wir nehmen auch die Rückmeldungen und Fragen unserer Nutzerinnen und Nutzer auf, um kindermedika.at ständig zu verbessern und praxisgerechter zu machen. Ziel ist, dass kindermedika.at von allen Betroffenen als der Goldstandard für die Arzneimitteltherapie bei Kindern und Jugendlichen anerkannt wird.

ÖAZ Danke für das Gespräch!

Das könnte Sie auch interessieren