Studienlage zu Biotin

Die ungeschönte Wahrheit

MAG. PHARM.  René  GERSTBAUER
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Präparate für die Haut © iStock
Für Haut, Haare und Nägel finden sich zahlreiche Präparate im Apothekensortiment. Viele von ihnen enthalten Biotin, auch als Vitamin B7 bekannt. © iStock

Nicht immer sind es akute gesundheitliche Beschwerden, weshalb Kund:innen die Apotheke aufsuchen. Als niederschwelliger Gesundheitsdienstleister werden Apotheker:innen auch in Sachen Erhaltung der Schönheit konsultiert. Nicht zuletzt deshalb, weil in den Regalen ein breites Sortiment angeboten wird, welches unseren Kund:innen suggeriert, die nötigen Stoffe zu liefern, um die Schönheit und/oder Gesundheit zu erhalten. Im direkten Kundengespräch ist es erforderlich, dass Apothekenpersonal auch klar und effizient über Inhaltsstoffe berichten und die Funktionsweise erklären kann.

Viele Namen – viele Funktionen

Beim Biotin handelt es sich um das wasserlösliche Vitamin B7. Ebenso geläufig ist aber auch der Beiname Vitamin H, welcher sich auf die „Hs der Schönheit“ bezieht: H für Haut und Haare. Doch abseits des vermeintlichen Boosts für die Gesunderhaltung des Antlitzes ist Biotin in einige andere physiologische Prozesse eingebunden: Unter anderem ist es an verschiedenen Stoffwechselvorgängen als Bestandteil der ausführenden Enzyme beteiligt und hat Anteil an der DNA- und Proteinsynthese sowie am Zellwachstum.

Wissenschaftlicher Exkurs

Biotin ist als prosthetische Gruppe von Carboxylasen an Carboxylierungen beteiligt, die nicht Vitamin-K-abhängig sind. So kommt es als Coenzym der an der Gluconeogenese beteiligten Pyruvatcarboxylase z. B. in Leber und Niere vor. 

Eine weitere Funktion des Biotins besteht in der Genregulation durch posttranslationale Histonmodifikation von Aminosäureresten in den flexiblen Armen der Histone. Durch die Biotinylierung einzelner Aminosäuren werden die Interaktion der Histone mit der DNA und die Bindung von anderen Proteinkomplexen an das Chromatin beeinflusst.

Biotin-Mangel ist selten

Prinzipiell ist ein Biotin-Defizit bei einer ausgewogenen Ernährung sehr selten. Es gibt seit 1942 Hinweise darauf, dass Darmbakterien in der Lage sind, Biotin zu synthetisieren. Der Tagesbedarf von 40 µg (Empfehlung für Erwachsene, jedoch nur ein Schätzwert, da einheitliche Analysen bisher nicht verfügbar sind) kann ausreichend über Nahrungsmittel wie Innereien (Leber, Niere), Sojabohnen, Haferflocken, Pilze, Nüsse, Spinat, Linsen, Milch bzw. Milchprodukte oder gekochte Eier aufgenommen werden. 

Die Top 10 Biotinreiche Lebensmittel
Vorkommen von Biotin je 100 g
Hefe200 µg
Eierschwammerl146 µg
Steinpilze105 µg
Rinderleber103 µg
Kalbsleber77 µg
Haselnüsse62 µg
Eigelb50 µg
Lachs (gegart)31 µg
Soja30 µg
Haferflocken20 µg

Die Haut reagiert am empfindlichsten auf ein Biotin-Defizit und tut dies in Form von Hautveränderungen (seborrhoische Dermatitis), weiters können Haarausfall, Schleimhautveränderungen, Konjunktivitis, Mundecken, Anorexie, Übelkeit, Muskelschmerzen bis hin zu Depressionen hinzukommen.

Steinpilze © iStock
Der Tagesbedarf von Biotin wird mit 40 µg angegeben und kann für gewöhnlich mit der Nahrung gedeckt werden: Reich an Biotin sind u. a. Hefe, Eierschwammerl und Steinpilze. © iStock

Achtung bei Dauereinnahme von Antibiotika

Bei Mangelernährung oder anderen Faktoren wie Alkoholkonsum, Rauchen und der dauerhaften Einnahme von Arzneimitteln kann es zu einer Hypovitaminose kommen. Ein geläufiges Beispiel ist der exzessive Gebrauch von Antibiotika und die damit einhergehende Funktionsminderung der Darmflora. Etwas exotischer, aber ebenfalls nicht auf die leichte Schulter zu nehmen: Das in rohem Hühnereiweiß enthaltene Glykoprotein Avidin bindet Biotin und hemmt damit gleichzeitig dessen Resorption. Vor allem bei speziellen Diäten – wie dem Verzehr von rohen Eiern – innerhalb der Bodybuildergemeinschaft kann dies zu einem Defizit führen. Gekochte Eier sind jedoch bedenkenlos genießbar, da Avidin beim Kochprozess denaturiert wird.

Versprechungen und Health Claims

In verschiedenen Werbeeinschaltungen wird mit Slogans geworben, die ein gesundes Wachstum für Haut, Haare und Nägel suggerieren. Hierfür gibt es eine europäische Reglementierung: Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat 2012 zwei Health Claims hierzu genehmigt: „Biotin trägt zur Erhaltung normaler Haare bei“ sowie „Biotin trägt zur Erhaltung normaler Haut bei“.

Gut zu wissen Weitere zugelassene
gesundheitsbezogene Aussagen zu Biotin
  • Trägt zu einem normalen Energiestoffwechsel bei
  • Trägt zu einer normalen Funktion des Nervensystems bei
  • Trägt zu einem normalen Stoffwechsel von Makronährstoffen
  • Trägt zur normalen psychischen Funktion bei
  • Trägt zur Erhaltung normaler Schleimhäute bei 

In Hinblick auf die gesundheitsbezogenen Aussagen zur Haut- und Haargesundheit ist jedoch anzumerken, dass die Studienlage sehr dünn ist und die Studienbedingungen mitunter fraglich sind. Kritisiert werden die kleine Probandenanzahl von max. 50 Personen und zu hinterfragende Testmethoden wie der Hair-Pull-Test, bei welchem an etwa 60 Haaren an drei Kopfstellen gezogen wird und der Test positiv ist, wenn mehr als 9 Haare ausfallen.

Ebenfalls auffällig ist, dass eine gesundheitsbezogene Werbeaussage zur Nagelgesundheit von der EFSA nicht zugelassen wurde. Der Grund dafür ist, dass klinische Studien hierzu die Wirkung bei Menschen bisher nicht wissenschaftlich beweisen konnten. Jedoch gibt es veterinärmedizinische Untersuchungen, welche mutmaßten, dass die zusätzliche Gabe von Vitamin B7 zur Härtung der Hufe von Nutztieren beiträgt. In weiterer Folge zeigten Versuche am Menschen unter Gabe von hochdosiertem Biotin (2,5 mg/d) eine Zunahme der Nageldicke sowie eine Verbesserung der Nageloberfläche. Da aber wissenschaftliche Studien zu niedrig dosierter Gabe ausgeblieben sind, kann die EFSA gesundheitsbezogene Werbeaussagen hierzu nicht zulassen.

Rechtlicher Kunstgriff

Allerdings wird weiterhin bei Kombinationspräparaten angedeutet, dass diese für Haut, Haare und Nägel wirksam sind. Und dies hat auch eine Berechtigung: Denn in diesen Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) sind zusätzlich Selen und/oder Zink enthalten, für die jeweils folgender Health Claim zugelassen ist: „Zink/Selen trägt zum Erhalt normaler Nägel bei."

rohes Hühnereiweiß © iStock
Das in rohem Hühnereiweiß enthaltene Glykoprotein Avidin bindet Biotin und hemmt damit gleichzeitig dessen Resorption.Gekochte Eier sind jedoch bedenkenlos genießbar. © iStock

Durch diesen rechtlichen Kunstgriff können solche Kombinationspräparate rechtmäßig beworben werden. Jede Aussage muss sich aber auf einen definierten Inhaltsstoff beziehen. Die EFSA weist dennoch entschieden darauf hin, dass die Aufnahme von Biotin in der Bevölkerung als ausreichend einzustufen und durch eine zusätzliche Gabe keine weitere Verbesserung zu erwarten ist. Erwähnenswert ist, dass es sehr wohl Studien zu hochdosierter Biotin-Gabe gibt, da Arzneimittel mit diesem Inhaltsstoff auf dem Markt sind. Zwar suggerieren diese Produkte ebenfalls, das Defizit bei Mangelerscheinungen (Haarausfall, Schuppungen, Rötungen und Störungen des Nagelwachstums) auszugleichen, in diesem Fall besteht die Indikation des (sehr seltenen) Vitamin B7-abhängigen, multiplen Carboxylasemangels, einer genetisch bedingten Erbkrankheit, wodurch das Enzym zum Aufspalten von Biotin aus der Nahrung fehlt.

Tagesbedarf an Biotin*
D-A-CH-Referenzwerte

Erwachsene (15–65 Jahre und älter)40 µg/d
Schwangere>40 µg/d
Stillende45 µg/d
Säuglinge0–4 Monate4 µg/d
4–12 Monate6 µg/d
Kinder1–4 Jahre20 µg/d
4–10 Jahre25 µg/d
10–15 Jahre35 µg/d

In Muttermilch sind circa 4,5 µg Biotin pro 750 ml enthalten. Da Biotin in Prozesse der DNA-Synthese eingebunden ist, sollte in der frühkindlichen Entwicklung auf eine ausreichende Versorgung geachtet werden. 

*Angaben lt. Österreichischer Gesellschaft für Ernährung

Behandlungsdauer, Überdosierung und Vorsichtsmaßnahmen

Bisher konnten keine toxischen Folgen einer übermäßigen Biotinzufuhr (bis zu 20 mg/d) festgestellt werden – weder bei NEM noch bei hochdosierten Arzneimitteln. Daraus folgt, dass es ebenso wenig eine festgelegte Obergrenze für die Einnahme gibt bzw. eine Therapiedauer festgelegt werden kann.
Bei regelmäßiger Anwendung von Biotin sollte an der Tara jedoch ein wichtiger Hinweis mitgegeben werden: 2019 wurde ein Rote-Hand-Brief herausgegeben, der darüber informierte, dass eine Biotin-Einnahme zu falschen kardialen und endokrinologischen Laborwerten führen kann. Unter anderem verstarb hierdurch aufgrund negativer Troponin-Testergebnisse ein Patient in den USA. Weiters wurden falsch erhöhte Estradiolwerte sowie falsch erniedrigte TSH-Werte berichtet.

Quellen

  • Jungert A, et al.: Revised D-A-CH reference values for the intake of biotin. Eur J Nutr 2022; 61(4): 1779-1787
  • Burkholder PR, et al.: Synthesis of Vitamins by Intestinal Bacteria. Proc Natl Acad Sci USA 1942; 28(7): 285-289
  • Verordnung (EU) Nr. 432/2012 der Kommission vom 16. Mai 2012 https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2012:136:0001:0040:de:pdf
  • Beer C, et al.: A clinical trial to investigate the effect of Cynatine HNS on hair and nail parameters. Sci World J 2014; 2014: 641723
  • Pawlowski A, et al.: Effect of biotin on hair roots and sebum excretion in women with diffuse alopecia. Pol Med J 1966; 5(2): 447-452

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