Tinnitus

Belastende Ohrgeräusche 

Mag. pharm. Irene Senn, PhD
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Beim Tinnitus hören wir das physiologisch immer vorhandene Hintergrundrauschen der Haarzellen. © Shutterstock

Nichts ist so laut, wie ein Geräusch, das man versucht, nicht zu hören. Tinnitus ist mittlerweile eine Volkskrankheit. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 5 und 15 % der Weltbevölkerung an einem chronischen Tinnitus leiden und etwa 1 bis 2 % dadurch eine schwere Einschränkung ihrer Lebensqualität erfahren.

Phantomgeräusche durch Spontanaktivität

Unter Tinnitus versteht man Ohr­geräusche, die nicht von außen verursacht werden und nur vom Betroffenen selbst wahrgenommen werden können. Sie sind aber nicht eingebildet. Die Pathophysiologie dahinter ist bis heute im Detail nicht vollständig geklärt. 

Eine wichtige Rolle spielen die etwa 12.000 äußeren und 3.000 inneren Haarzellen im Innenohr. Ihre Aufgabe ist es, ein mechanisches Schallsignal in einen elektrischen Impuls umzuwandeln und an den Hörnerv weiterzuleiten. Die Haarzellen verursachen dabei laufend eine Art Hintergrundrauschen. Diese Störgeräusche werden normalerweise von unserem Gehirn gefiltert und dadurch nicht wahrgenommen (ebenso wie übrigens auch Herz-, Atem- und Schluckgeräusche).

Historisches Experiment

Jeder Mensch hat Ohrgeräusche

Interessant für das Verständnis von Tinnitus ist ein historisches Experiment, in welchem junge, gesunde ProbandInnen einzeln in eine schalltote Kammer gesetzt wurden.

Bereits nach fünf Minuten nahmen 95 % der StudienteilnehmerInnen Ohrgeräusche wahr.1 Jeder Mensch hat also im Prinzip einen „unhörbaren Tinnitus“, der aber – da wir uns nie in einem völlig schalltoten Raum aufhalten – nicht wahrgenommen wird.


Gestörte Filterfunktion bei Stress

Unter Stress leidet diese Filterfunktion unseres Gehirns: Es kommt zu einer fehlerhaften Verarbeitung der akustischen Signale. Der Cortex regelt fehlende Frequenzen hoch und verstärkt dadurch die Störgeräusche, die normalerweise unterdrückt und nicht wahrgenommen werden. 

Dass Ohrgeräusche besonders häufig in akuten stressigen Situationen auftreten, lässt sich mit der Evolution erklären. Ursprünglich diente der Gehörsinn dem Menschen dazu, annähernde Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Dies sicherte uns in früheren Zeiten das Überleben. Heute ist diese Reaktion überflüssig, unser Gehörsinn ist aber bis heute noch eng mit unseren Emotionen in Stresssituationen verbunden.

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Dass Ohrgeräusche besonders häufig in stressigen Situationen auftreten, lässt sich evolutionär erklären. Die Filterfunktion des Gehirns ist gehemmt; dadurch hören wir akustische Störsignale. © Shutterstock

Ursachen vielfältig

Die häufigsten Auslöser der subjektiv wahrgenommenen Ohrgeräusche sind Lärmtraumata, eine chronische Lärmbelastung sowie Infekte und Entzündungen am Ohr bzw. ototoxische Medikamente. Stress ist zwar nicht der direkte Auslöser für Ohrgeräusche, er kann sie aber verstärken und wird dadurch häufig als Ursache erlebt. Tinnitus als Symptom einer schweren Erkrankung kommt selten vor.2

Lange Zeit galten Durchblutungsstörungen als Hauptursache für Tinnitus. Dies gilt heute als überholt. Sie können zwar eine mögliche Ursache für einen akuten Hörsturz sein, jedoch keine chronischen Zustände bei normalem Hörvermögen erklären, da die Haarzellen nicht durchblutet, sondern von Endolymphen versorgt werden.3

Wechselseitige Beziehung: Stress und Tinnitus

Wie stark die Beeinträchtigung durch den Tinnitus ist, bleibt immer eine Frage der individuellen Beurteilung. Denn alles, was wir hören, wird unwillkürlich im Limbischen System emotional bewertet (man denke an Musik). Wenn der Fokus vollkommen auf das Ohr und die ungewollten Geräusche gerichtet ist, geraten viele Betroffene in einen Teufelskreis aus negativen Emotionen, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen und einer daraus resultierenden verstärkten Tinnitus-Wahrnehmung, welche wiederum emotionalen Stress erzeugt.

Aktuelle Studie

Zusammenhang zwischen Stress und Tinnitus

Zwischen emotionalem Stress und der Schwere der Tinnitus-Symptomatik scheint ein Zusammenhang zu bestehen. So zeigten in einer brasilianischen Studie 65 % der eingeschlossenen ProbandInnen (n=180) mit chronischem Tinnitus typische Stresssymptome. Je höher der Beeinträchtigungsgrad durch den Tinnitus war, umso stärker stieg das Stressniveau.12

Häufige psychische Begleiterkrankungen

Ein chronischer Tinnitus ist häufig mit Komorbiditäten wie Schlaflosigkeit, Angstzuständen und Depression vergesellschaftet, was mitunter bis hin zu sozialen Isolationen und Suizidgedanken führen kann. Ein systematischer Review von 28 Studien mit insgesamt fast 10.000 PatientInnen fand bei 33 % der Betroffenen eine Depression.6 In einer kürzlich veröffentlichten Beobachtungsstudie aus den Niederlanden hatten die Betroffenen sogar dann ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Ängste und Schlafstörungen, wenn das Ohrgeräusch gar nicht als besonders störend empfunden wurde.7 Unklar ist jedoch, ob eine Depression ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Tinnitus ist – oder umgekehrt die Depression die Folge einer unzureichenden Kompensation. 

Therapie des akuten Tinnitus

Akut auftretende Ohrgeräusche haben eine hohe Tendenz zur Spontanheilung: In bis zu 80 % der Fälle tritt innerhalb von Tagen bis Wochen eine vollständige Remission ohne therapeutische Maßnahmen ein.8 Die Hörverarbeitung erkennt, dass das Geräusch unbedeutend ist und unterdrückt es wieder. 

Als medikamentöse Therapie des akuten Tinnitus wird in Anlehnung an die S1-Leitlinie „Hörsturz“ eine Hochdosistherapie mit 250 mg Prednisolon über drei Tage empfohlen.9 Der Nutzen der Cortisongabe ist nur empirisch belegt; in Anbetracht der hohen Spontanheilungsrate wird ihr Einsatz kontrovers diskutiert. Andere Therapieoptionen wie Vasodilatoren und Rheologika sind in beiden Indikationen unwirksam.9,10

Therapie des chronischen Tinnitus

Neben der erst kürzlich aktualisierten deutschen S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“4, wurde 2019 die erste multidisziplinäre europäische Leitlinie11 publiziert. Die Basis jeder Therapie sollte eine umfassende Beratung und Patientenaufklärung (sog. Tinnitus-Counselling) sein. Allein das Wissen über die Hintergründe der Entstehung von Ohrgeräuschen kann Betroffene bereits beruhigen und den Leidensdruck stark mindern. 

Alle weiteren Therapieempfehlungen zielen darauf ab, die psychische Belastung langfristig zu reduzieren. Dabei stehen stressreduzierende Techniken im Fokus, welche es den Betroffenen ermöglichen, besser mit dem Ohr­geräusch umzugehen. 

Kognitive Verhaltenstherapie

Der psychologische Ansatz zeigt eine hohe Erfolgsrate zur Relativierung der empfundenen Belastung und ist bislang die effektivste Behandlungsmethode bei chronischem Tinnitus. In allen europäischen Leitlinien erhält die kognitive Verhaltenstherapie eine klare Empfehlung mit höchstem Evidenzgrad. Die Methode basiert darauf, dass Betroffene lernen, ungünstige Denk- und Verhaltensweisen zu erkennen und hilfreiche Strategien zu entwickeln – dadurch soll die negative Reaktion auf den Tinnitus unterbrochen werden. 

Soundtherapie und Apps

Die Soundtherapie ist eine weitere wichtige Säule der Tinnitustherapie. Hierfür ist mittlerweile eine große Anzahl von Smartphone-Apps verfügbar, die in Deutschland zum Teil sogar von Versicherungsträgern erstattet werden (z. B. Tinnitracks, Kalmeda). Mithilfe von Musik oder Geräuschen soll das Gehirn lernen, die störenden Töne im Ohr auszublenden. Die Evidenz ist bislang dürftig, die positiven Rückmeldungen der NutzerInnen zeigen jedoch, dass sie die Beschwerden vielfach lindern können. Daher unterstützt der Deutsche Berufsverband der HNO-ÄrztInnen das digitale Angebot als begleitende Maßnahme in der Tinnitusbehandlung. Die aktuelle AWMF-Leitlinie statiert der Soundtherapie eine unzureichende Evidenz. 

Hörhilfen nur bei Hörverlust

Wenn ein Hörverlust mit dem Tinnitus einhergeht, wird der Einsatz von Hörgeräten empfohlen. In den meisten Fällen bessert sich ein Tinnitus, wenn der ursächliche Hörschaden behoben wird. PatientInnen ohne Hörschaden profitieren oft von einem sog. Noiser  (Rauschgenerator). Das Gerät ähnelt optisch einem klassischen Hörgerät und erzeugt ein weißes, gleichmäßiges Rauschen. Dadurch passiert eine Art Umprogrammierung im Gehirn. Während der Tragezeit von ein bis zwei Jahren werden oft sehr rasche Soforteffekte erzielt; bei vielen bleibt der Tinnitus auch danach leiser bzw. verschwindet sogar vollkommen.

Medikamentöse Therapie des chronischen Tinnitus

Zur Behandlung des chronischen Tinnitus sind über die vergangenen Jahre diverse Arzneimittel versuchsweise eingesetzt worden, darunter Antiarrhythmika, Antikonvulsiva, Anxiolytika, Glutamatrezeptor-Antagonisten, Antidepressiva und Muskelrelaxanzien. Einen Wirknachweis konnte bislang keine Substanzklasse bringen. Sowohl die europäische als auch die deutsche Leitlinie stellen klar, dass es keine spezifische Arzneimitteltherapie mit ausreichender Evidenz zur Behandlung des chronischen Tinnitus gibt. 

Aktuelle Studie 

Eine im September 2021 publizierte Studie evaluierte die pharmakologische Tinnitustherapie.11 2.761 ProbandInnenen wurden drei Monate behandelt, wobei man zwei Ansätze verfolgte: die Verabreichung zentral wirksamer Medikamente wie Amitriptylin, Acamprosat oder Gabapentin und eine antiinflammatorische bzw. antioxidative Therapie, z. B. Dexamethason plus orales Melatonin. Die höchsten Ansprechraten wurden unter intratympanal appliziertem Dexamethason plus Melatonin, oralem Melatonin plus Sulodexid, oralem Melatonin und Amitriptylin erreicht. Zentral oder antiinflammatorisch bzw.  antioxidativ wirksame Medikamente verringerten im Vergleich zur Placebo- oder Kontrolltherapie  die Beschwerden. Keine Verbesserungen wurden durch Ginkgo biloba, Sertralin oder Alpha-Liponsäure plus Vitamin C erzielt.

Antidepressiva

In Verbindung mit einer Depression können Antidepressiva oft gute Erfolge erzielen. Unklar ist, ob die Wirkstoffe den Tinnitus direkt beeinflussen oder die Verbesserung durch die erfolgreiche Therapie der Depression eintritt. Spannend ist jedenfalls, dass bei der Verarbeitung von Depression und Tinnitus ähnliche Gehirnareale aktiviert werden. 

Lidocain

Die einzige Substanz, die Ohrgeräusche signifikant und reproduzierbar reduzieren konnte, ist Lidocain (i. v.). Eine Langzeittherapie ist jedoch aufgrund der kurzen Halbwertszeit und schlechten Bioverfügbarkeit nicht praktikabel. Die Erkenntnisse lassen aber zumindest die Hoffnung offen, dass pharmakologische Interventionen im Bereich des Möglichen sind.10

Quellen
1   Heller MF et al.: Tinnitus aurium in normally hearing persons. Ann Otol Rhinol Laryngol 1953;62(1):73−83
2   Mazurek B et al.: Tinnitus – Klinik und Therapie. Laryngo-Rhino-Otologie 2017;96:47−59 
3   Baguley D et al.: Tinnitus: A Multidisciplinary Approach. John Wiley & Sons Ltd:2013
4   S3-Leitlinie: Chronischer Tinnitus. AWMF-Register Nr 117/064;2021 
5   Biesinger E et al.: Strategien in der ambulaten Behandlung des Tinnitus. HNO 1998;46(2):157−169 

Weitere Literatur auf Anfrage

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