
Die 1950er-Jahre waren eine Blütezeit für die Entwicklung von Erstgenerations-Antipsychotika wie Chlorpromazin oder Haloperidol. Auch das niedrigpotente Neuroleptikum Prothipendyl stammt aus dieser Zeit. Eine wesentliche Voraussetzung für den neuen Arzneistoff war damals die Weiterentwicklung des bereits bekannten trizyklischen Phenothiazins zu Azaphenothiazin. Dieses bildete das Grundgerüst für Prothipendyl. Die erste Patentierung erfolgte 1960 durch Yale und Bernstein für die amerikanische Olin Mathieson Chemical Corporation.1
Schon seit 1972 wird Prothipendyl in Österreich vertrieben. Aktuell sind Filmtabletten zu 80 mg als einzige Darreichungsform im Austria Codex gelistet.2 Nicht mehr erhältlich sind Tropfen und parenterale Darreichungsformen zur intramuskulären oder intravenösen Anwendung.
Während Prothipendyl in Österreich vor allem im geriatrischen Bereich fixer Bestandteil des Apothekenalltags ist, ist es etwa in den USA gar nicht im Handel. Im Nachbarland Deutschland ist Prothipendyl gebräuchlich, wird aber seltener verordnet als andere niedrigpotente Neuroleptika wie Melperon oder Pipamperon.3
Wirkung von Prothipendyl
Als Faustregel gilt: Je ausgeprägter die antipsychotische Wirkung eines Neuroleptikums, desto schwächer ist seine dämpfende bzw. sedierende Komponente („hochpotentes Neuroleptikum“). Umgekehrt wirken niedrigpotente Neuroleptika primär sedierend und psychomotorisch dämpfend, zeigen antipsychotische Effekte aber erst bei sehr hohen Dosen.4 Prothipendyl ist ein niedrigpotentes Antipsychotikum der ersten Generation. Seine Wirkung wird als beruhigend und sedierend bis schlafanstoßend beschrieben, sowie als psychomotorisch dämpfend, muskulotrop-spasmolytisch und antiemetisch.2 Die antipsychotische Wirkung von Prothipendyl ist gering, sodass es sich kaum als Basisneuroleptikum eignet – es wird primär zur Sedierung und bei Unruhezuständen eingesetzt. In der Praxis werden hoch- und niedrigpotente Antipsychotika häufig kombiniert, etwa in akuten Krankheitsphasen mit ausgeprägter motorischer Unruhe und Ängsten.
Wirkmechanismus und Anwendungsgebiete
Prothipendyl erzeugt eine ausgeprägte Blockade des H1-Rezeptors und dadurch einen sedierenden bis schlafanstoßenden Effekt. In geringem Ausmaß wirkt es antagonistisch an Dopamin-D2 und D1-Rezeptoren (geringer antipsychotischer Effekt, antiemetischer Effekt). Darüber hinaus blockiert Prothipendyl Serotonin-5-HT2A-Rezeptoren. Auch damit werden beruhigende Wirkungen verknüpft.2 Die Blockade von Alpha-1-Rezeptoren (mögliche orthostatische UAW) sowie mäßige anticholinerge UAW sind ebenfalls beschrieben.2,5,7
Prothipendyl-Filmtabletten sind laut Fachinformation bei schweren Einschlafstörungen indiziert.2 Die Dosierung beträgt dabei 40–80 mg abends (1/2 bis 1 Filmtablette). Die Filmtablette soll dabei nach den Mahlzeiten eingenommen werden, auch das Zerfallenlassen in Wasser ist möglich. Die Halbwertszeit der Substanz ist mit 2–3 Stunden kurz, maximale Wirkspiegel werden etwa 1,5 Stunden nach Gabe der Filmtabletten erreicht.2 Prothipendyl ist das einzige Antipsychotikum, das über eine Zulassung als Schlafmittel verfügt. Andere Antipsychotika wie Quetiapin werden in dieser Indikation zwar häufig eingesetzt, jedoch im Off-Label-Use.
Als weiteres Anwendungsgebiet nennt die Fachinformation psychomotorische Unruhe- und Erregungszustände in der Psychiatrie und Neurologie. Hier sind wesentlich höhere Dosierungen möglich (bis zu 120–320 mg täglich, aufgeteilt auf 3–4 Einzeldosen).2
Laut der Leitlinie „Notfallpsychiatrie“ ist zwar eine Reihe niedrigpotenter Antipsychotika für die Behandlung von Erregungszuständen und Agitation zugelassen, jedoch existieren für diese Substanzgruppe kaum Studien mit ausreichender Evidenz.5 Nicht mehr empfohlen wird in der psychiatrischen Notfallbehandlung die parenterale Anwendung von Prothipendyl, unter anderem wegen der Gefahr kardialer Störungen.6
Ausgewählte Nebenwirkungen
Insbesondere zu Behandlungsbeginn kann Prothipendyl hypotensive Effekte hervorrufen.2 Es kann zu einer kompensatorischen Beschleunigung der Herzfrequenz, Schwindel, orthostatischen Kreislaufbeschwerden und Synkopen kommen.7 Kreislaufstörungen, Benommenheit und Sedierung können zum medikamentös bedingten Sturzrisiko beitragen – das ist gerade bei älteren Menschen, bei denen Prothipendyl häufig verordnet wird, zu beachten. Wie andere Phenothiazine besitzt auch Prothipendyl ein bekanntes Risiko zur Verlängerung des QT-Intervalls – auf das seltene Risiko kardialer Arrhythmien wird in der Fachinformation hingewiesen.2,8 Positiv: Im Gegensatz zu hochpotenten Neuroleptika kommen extrapyramidale Nebenwirkungen unter Prothipendyl praktisch nur bei überhöhten Dosierungen über längere Zeiträume vor, sind aber selbst dann noch selten.
Wechselwirkungspotenzial
Andere zentral dämpfende Substanzen oder Alkohol können die Wirkung von Prothipendyl verstärken. Die Kombination mit anderen Wirkstoffen, die das QT-Intervall verlängern oder eine Hypokaliämie hervorrufen können, darf nur unter großer Vorsicht erfolgen. Da Prothipendyl als schwacher Dopaminantagonist wirkt, wird die Wirkung von L-Dopa vermindert. Theoretisch sind auch Wechselwirkungen mit Dopaminagonisten möglich. Laut Fachinformation kann die blutdrucksenkende Wirkung von Antihypertensiva verstärkt werden.2 Am Metabolismus von Prothipendyl sind CYP 1A2, CYP 2D6, CYP 2C19 und CYP 3A4 beteiligt.9 Spezifische Daten zu möglichen CYP-basierten Interaktionen liegen jedoch nicht vor.2
Praxis
In der pharmazeutischen Praxis hat Prothipendyl vor allem als Alternative zu anderen Sedativa und Hypnotika Bedeutung. Im Gegensatz zu Benzodiazepinen und Z-Substanzen hat es keine Wirkung auf den GABA-Rezeptor und führt nicht zur Abhängigkeit.2 Es wird als gut schlafinduzierend und nur wenig anticholinerg eingestuft.10 Da es gegen Unruhe und Agitation wirkt, kommt es häufig bei Schlafstörungen im Rahmen verschiedenster psychiatrischer Erkrankungen zum Einsatz.
Im Verlauf von Demenzen kommt es bei vielen Betroffenen zu Schlafstörungen, des Weiteren zu agitiertem und aggressivem Verhalten und psychotischen Symptomen (BPSD). Das erschwert die Betreuung der Betroffenen und ist ein häufiger Grund für die Einweisung in eine Pflegeeinrichtung. Der Einsatz von Antipsychotika gegen diese Symptomatik ist oft unvermeidbar, jedoch ein besonders sensibler Bereich. Prothipendyl ist eine häufig genutzte Variante¹¹, auch wenn die Verschreibung häufig ältere Menschen mit kardiovaskulären Vorerkrankungen und bereits bestehender Polypharmazie betrifft.
Alternativen für niedrigpotente Neuroleptika als Sedativa in der Geriatrie sind rar. Die Priscus-Liste (Potenziell inadäquate Medikation für Ältere) favorisiert die beiden Substanzen Melperon und Pipamperon.12 Sie sollen Alpha-1-Adrenorezeptoren in geringerem Ausmaß blockieren sowie schwächere anticholinerge Nebenwirkungen haben.13 Melperon hat jedoch den Nachteil, ein CYP2D6 Hemmer zu sein, und besitzt überdies keine Zulassung bei Schlafstörungen.2 Pipamperon ist in Österreich nicht im Handel.2
Quellen
1 www.worldwide.espacenet.com, abgerufen am 4.9.2025
2 Austria Codex Fachinformation Dominal® forte
3 Ludwig Wolf-Dieter, Arzneiverordnungsreport 2019, Springer Verlag
4 Karow T: Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie (2022), 30. Auflage
5 S2k-Leitlinie: Notfallpsychiatrie (2019) AWMF-Reg. Nr. 038-02
Weitere Quellen auf Anfrage