
Die Orthomolekulare Medizin geht auf den US-amerikanischen Chemiker Linus Pauling zurück und basiert auf wissenschaftlichen und biochemischen Grundlagen. Sie betrachtet eine ausgewogene Versorgung mit Mikronährstoffen als Grundlage für eine gute Gesundheit und setzt auf Prävention, um Mangelzustände zu vermeiden. Bei bereits bestehenden Erkrankungen kann die orthomolekulare Medizin begleitend eingesetzt werden, um den Körper bei der Regeneration zu unterstützen und Symptome zu lindern. Die Mikronährstofftherapie kann auch als Teil der Regulationsmedizin betrachtet werden, die den Fokus auf die Selbstregulation des Körpers legt.
Nährstofflücken auf natürliche Weise füllen
Als ganzheitliche Therapieform beruht die orthomolekulare Medizin auf dem Ansatz, dass verschiedene Ernährungsweisen, Lebensstile, Umwelteinflüsse, aber auch genetische Bedingungen Nährstoffdefizite im Körper verursachen können. Klassischerweise kommen Vitamine und Mineralstoffe, aber auch sekundäre Pflanzenstoffe, essenzielle Fettsäuren, Aminosäuren und Enzyme in abgestimmter Dosierung zum Einsatz, um genannte Dysbalancen auszugleichen. Inzwischen werden ergänzend auch Ballaststoffe (z. B. Präbiotika), spezielle Kohlenhydrate (z. B. Ribose) oder Proteine (z. B. L-Glutathion) eingesetzt, sodass die Grenzen zur klassischen Ernährungsmedizin faktisch verschwimmen. Auch körpereigene Hormone und Botenstoffe sowie deren Vorstufen (z. B. Melatonin) werden von der ursprünglichen Definition Paulings erfasst und gegebenenfalls supplementiert.
Mikronährstoffmangel in Österreich
Wenngleich Lebensmittel zur Bedarfsdeckung reichlich vorhanden sind, ist die Zufuhr von Vitaminen und Mineralstoffen in Österreich oft nicht ausreichend. Viele unspezifische Symptome können Hinweise auf Mangelzustände sein. Vitamin D, Vitamin E, Folat, Vitamin B1, Pantothensäure, Beta-Carotin, Kalium, Calcium, Magnesium und Jod – das ist die Liste jener Mikronährstoffe, die in Österreich laut dem letzten Ernährungsbericht 2017 von Erwachsenen nicht in ausreichender Menge zugeführt werden. Bei jungen Frauen kommt eine hohe Tendenz zum Eisenmangel dazu.1 Doch nicht nur in Österreich, auch weltweit nimmt der Mikronährstoffmangel zu.
Mikronährstoffmangel nimmt weltweit zu
In einer Modellanalyse aus dem Jahr 2024 wurde die globale Prävalenz von 15 Mikronährstoffmängeln erfasst. Dabei zeigt sich, dass mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung nicht genügend Mikronährstoffe zu sich nimmt. In vielen Entwicklungsländern ist der Mangel an Mikronährstoffen aufgrund begrenzter Ressourcen und unzureichender Ernährung weit verbreitet. Doch auch in wohlhabenden Ländern kann ein Mangel an Mikronährstoffen aufgrund einseitiger Ernährung oder ungünstiger Lebensumstände auftreten.

Die Berechnungen aus der Studie zeigen, dass bis zu 68 % der Weltbevölkerung nicht genügend Jod, 67 % zu wenig Vitamin E und 66 % zu wenig Calcium zu sich nehmen. Darüber hinaus haben mehr als 65 % einen Mangel an Eisen, 55 % an Vitamin B2, 54 % an Folsäure und 53 % an Vitamin C. Es wurden auch Unterschiede zwischen Männern und Frauen festgestellt. Frauen nehmen im Allgemeinen weniger Jod, Vitamin B12, Eisen, Selen, Calcium, Riboflavin und Folsäure zu sich als Männer. Bei Männern ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie einen Mangel an Magnesium, Vitamin B6, Zink, Vitamin C, Vitamin A, Vitamin B1 und Niacin (Vitamin B3) aufweisen.2
Mikronährstoffmangel in der frühen Entwicklung
Ein Grundsatzartikel aus 2015 erläutert das Potenzial, das in der globalen Vermeidung von Mikronährstoffmängeln liegt. Die Autor:innen betonen, dass sich Mikronährstoffdefizite nicht nur auf die Gesundheit, sondern auch auf das Leistungsvermögen und das Bildungsniveau einer Gesellschaft auswirken. Schädigungen durch Mangelernährung manifestieren sich primär in den ersten 1.000 Tagen des Lebens, ab der Empfängnis gerechnet, und sind dadurch vererbbar. Maßnahmen im Zeitfenster von der Schwangerschaft bis zum Kleinkindalter eignen sich daher besonders, um den Kreislauf von Mangelernährung sowie körperlicher und geistiger Beeinträchtigung über Generationen hinweg nachhaltig zu durchbrechen. Hier können verschiedene Wege wie angereicherte Lebensmittel, orthomolekulare Ergänzungen, Bildungsprogramme, Anbaumethoden etc. als Maßnahmen angedacht werden.3
Personen mit erhöhtem Nährstoffbedarf
Medizinisch-wissenschaftlich anerkannt ist der Einsatz der Orthomolekularen Medizin in allen Bereichen, in denen es um den Ausgleich einer unvollständigen Mikronährstoffversorgung geht. Dazu zählen nachgewiesene Mangelzustände (Eisenmangel, Calciummangel etc.) sowie Verdauungs- und Verwertungsstörungen (Anorexie, Darmerkrankungen, Rehabilitation etc.). Ergänzend werden sogenannte Risikogruppen mit einem erhöhten Nährstoffbedarf definiert, die von orthomolekularen Substanzen gleichermaßen profitieren können. Konkret handelt es sich um Schwangere und Frauen mit Kinderwunsch, Stillende, Kinder/Jugendliche im Wachstum, Raucher:innen, Menschen mit hohem Alkoholkonsum, Leistungssportler:innen, Senior:innen, chronisch kranke und infektanfällige Menschen, Menschen mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten (z. B. Lactose-, Fructoseintoleranz) oder Diäten, mit einer unausgeglichenen veganen oder vegetarischen Ernährung sowie unter einer hohen oder dauerhaften physischen und psychischen Stressbelastung. Auch Multimedikationen bzw. chronische Medikamenteneinnahmen können einen Nährstoffmangel hervorrufen, der optimalerweise mit zeitversetzt eingenommenen orthomolekularen Präparaten verhindert werden kann.
Orthomolekulare Präparate
Zum Einsatz kommen spezielle orthomolekulare Präparate mit einzelnen oder kombinierten Wirkstoffen. Der überwiegende Teil der orthomolekularen Präparate ist in Form von Nahrungsergänzungsmitteln als Kapseln, Tabletten, Brausetabletten oder Trinklösungen auf dem Markt. Diese werden in Österreich im Rahmen der Nahrungsergänzungsmittelverordnung hinsichtlich Dosierung, Deklaration und Zusammensetzung reguliert. Auch Infusionstherapien mit Mikronährstoffen und Hochdosistherapien kommen in der Orthomolekularmedizin zur Anwendung. Einige orthomolekulare Präparate sind darüber hinaus als Arzneimittel zugelassen.
Diagnose in der Nährstofftherapie
Die Diagnostik spielt in der Orthomolekularen Therapie eine wichtige Rolle. Dabei kann der Status von Mikronährstoffen und anderen Biomolekülen nach verschiedenen Methoden bestimmt werden. Zu den üblichen Diagnosemethoden zählt die Bestimmung des Nährstoffstatus im Vollblut oder im Serum. Häufig gefragt sind der Körperspiegel an verschiedenen Aminosäuren, Vitaminen, Elektrolyten, Spurenelementen, Fettsäuren, Hormonen oder sonstigen Substanzen wie Carnitin, Coenzym 10, Glutathion, Homocystein oder Peroxiden. Je nach Bedarf können auch andere Tests wie Speicheltests, z. B. zur Bestimmung des Cortisolspiegels, oder funktionelle Tests, beispielsweise zur Bestimmung der Enzymaktivität, durchgeführt werden. Basis jeder Beratung bildet jedoch eine eingehende Anamnese durch eine ausgebildete Fachkraft. Diese kann durch einen Mikronährstoff-Check oder eine Laboruntersuchung bestenfalls ergänzt werden, um schließlich eine individuelle Empfehlung abzugeben.
Nährstoffmangel erkennen
Ein leichter Nährstoffmangel macht sich meist durch unspezifische Beschwerden wie z. B. Erschöpfung, Müdigkeit, Schlafstörungen, Verdauungsbeschwerden, Stimmungsschwankungen oder erhöhte Infektanfälligkeit bemerkbar. Erst mit zunehmender Mikronährstoffverarmung zeigt der Körper klar zuordenbare Signale, die es nun richtig zu deuten gilt. Die Nährstofftherapie sollte immer nach Beratung bzw. in Begleitung einer erfahrenen Fachkraft erfolgen. Von Selbsttherapie ist dringend abzuraten, um mögliche Risiken und unerwünschte Wirkungen zu vermeiden.
Die orthomolekulare Medizin betrachtet Symptome wie Müdigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Verdauungsbeschwerden, Infektanfälligkeit, Schmerzen, Krämpfe, Hautprobleme oder Stimmungsschwankungen als Zeichen für ein Ungleichgewicht im Körper und versucht, dieses durch die Zufuhr von Mikronährstoffen auszugleichen. Eine orthomolekulare Behandlung sollte jedoch immer mit einer Beratung und gegebenenfalls mit einer Diagnostik ombiniert werden und individuell auf den/
die Patient:in abgestimmt werden.
Individualität und Beratung
Die Therapie wird individuell auf die Bedürfnisse der Patient:innen abgestimmt, da der Bedarf an Mikronährstoffen von verschiedenen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Lebensstil und Gesundheitszustand abhängt. Zusätzlich gibt es gerade bei der Nährstofftherapie zahlreiche Symptome, die nicht eindeutig einem Nährstoff zuzuordnen sind. Hier sollte der komplexe biochemische Hintergrund innerhalb des Stoffwechsels nicht außer Acht gelassen werden. Selbst gut nachvollziehbare Aussagen, dass Österreich ein klassisches Jodmangelgebiet sei, die endogene Vitamin-D-Synthese in unseren Breiten in den Wintermonaten grundsätzlich zu gering sei und Vitamin B12 bei vegan lebenden Personen oftmals unzureichend konsumiert wird, sollten nicht unreflektiert zu Nährstoffeinnahmen verführen. Daher gilt: Die orthomolekulare Medizin ist eine komplementärmedizinische Methode, die nicht als Ersatz für eine konventionelle medizinische Behandlung angesehen werden sollte.
Wechselwirkungen zwischen Arzneimittel und Nährstoff-Aufnahme | |
Arzneimittel | Auswirkung auf |
Diuretika | Kaliumspiegel ↓ |
Abführmittel | Kaliumspiegel ↓ |
Cortisol | Natrium- und Wasserretention |
Sulfonylharnstoffe (Antidiabetika) | Jodresorption ↓ |
Orale Kontrazeptiva | Zinkspiegel ↓, Kupferspiegel ↑, Folsäureresorption ↓, B12-Resorption ↓ |
Antibiotika | Eisenresorption ↓, B3-, B6-Stoffwechsel ↓ |
Protonenpumpeninhibitoren | B12-, Vitamin C-, Eisen-, Calcium-, Magnesiumresorption ↓ |
Dosierung und Qualität
Neben der Dosierung der Wirkstoffe sind die Verbindung, die Begleitstoffe sowie diverse Kontrollsiegel wichtig. Eine gute Qualität versprechen Produkte ohne Zusatzstoffe, Hilfs- oder Begleitstoffe, die frei von Allergenen sowie Zuckerzusätzen sind. Auch das Herkunftsland sollte berücksichtigt werden. In Nicht-EU-Staaten kann die Regulierung von Nahrungsergänzungen, was Dosierung und Herstellungsbedingungen betrifft, anders gehandhabt werden. Daher ist die Apotheke sowohl hinsichtlich einer guten Beratung als auch aus Sicht der Qualität stets zu bevorzugen. Es ist wichtig zu beachten, dass die Mikronährstofftherapie oft längerfristig angelegt ist und erste Verbesserungen in der Regel erst nach einigen Wochen oder Monaten spürbar werden.
Studien in der Mikronährstoffmedizin
Die Mikronährstoffmedizin basiert auf einer hohen, stetig wachsenden Zahl an medizinischen Studien, die Wirkungen belegen und damit eine sichere Grundlage für Therapie und Prävention bilden. Dabei sind Studien für Mikronährstoffe schwieriger zu konzipieren, da viele Mikronährstoffe meist schon über die Ernährung in unterschiedlichen Mengen aufgenommen werden und die Ausgangslage sowie der Bedarf individuell sind. Zudem wirken viele Mikronährstoffe erst nach mehreren Wochen oder Monaten, sodass Studien über längere Zeiträume angesetzt werden müssen. Dennoch ist eine kritische Betrachtung der Studienlage unerlässlich.
Eine optimale Nährstoffzufuhr gestaltet sich vor allem aus einer möglichst großen Vielfalt an unverarbeiteten, natürlichen Lebensmitteln. Diese umfassen frisches Obst und Gemüse, Vollkornprodukte, Samen, Nüsse, Eier, Milchprodukte, Fleisch und Fisch. Auch Kräuter enthalten zahlreiche Mikronährstoffe und werten Mahlzeiten nicht nur geschmacklich auf.
Primäres Ziel ist eine gute Basisversorgung
Eine Basisversorgung umfasst einen Großteil des Vitamin-, Mineral- und Spurenelementspektrums. Ziel ist die kontinuierliche sowie die lückenlose Versorgung des Körpers, um die Stoffwechselaktivität innerhalb der Zelle zu unterstützen. Charakteristisch ist dabei ein breites Nährstoffspektrum, wobei die Dosierung pro Nährstoff niedrig gehalten wird und bei rund 100 % der empfohlenen Tagesdosierung (100 % NRV; Nutrient Reference Value; Nährstoffbezugswert) liegt. Die Basisversorgung eignet sich zur Verbesserung der Vitamin- und Mineralstoffzufuhr, insbesondere bei erhöhtem Bedarf, sowie zur ernährungsphysiologischen Unterstützung. Ist die Basisversorgung sichergestellt und der Zellstoffwechsel quasi aktiviert, können im Bedarfsfall mit hochdosierten Mononährstoffen mögliche Nährstofflücken gezielt gefüllt werden.

Monopräparate oder Multipräparate
Die Zutatenliste zeigt rasch, ob es sich um ein Monopräparat mit nur einem Wirkstoff oder um ein Kombinations- bzw. Multipräparat mit mehreren Nährstoffen handelt. Beide Formen zeigen jeweils Vor- als auch Nachteile. Monopräparate punkten mit hohen Dosierungen und können Mangelzustände rasch und effizient ausgleichen. Diese Formen eignen sich optimal als Ergänzung zu Basis- bzw. Multipräparaten, da der grundsätzliche Stoffwechsel in der Zelle bereits sichergestellt ist. Ein möglicher Nachteil liegt in der Resorbierbarkeit, da hohe Dosierungen nur bedingt resorbiert werden können. Multipräparate liefern ein breites Portfolio an Vitalstoffen und sind in der Lage, die intrazelluläre Stoffwechselaktivität effizient zu aktivieren. Die Nährstoffdosierungen fallen geringer aus, die Resorbierbarkeit ist nahezu garantiert und der Effekt bei regelmäßiger Zufuhr nach rund vier bis sechs Wochen gut spürbar. Nachteilig sind so gesehen die längerfristige Anwendung sowie der sanfte Effekt. Nachweisbare Nährstoffmängel sind in dieser Dosierung nur bedingt zu füllen.
Daher ist es wichtig, weder die eine noch die andere Form von vornherein zu präferieren, sondern nach einer gewissenhaften Anamnese die richtigen Kombinationen zu wählen. So können je nach Individuum, Bedarf, Lebensstil und Situation sowohl Kombinationen bestimmter Nährstoffe als auch einzelne, gezielt ausgewählte Nährstoffe sinnvoll sein.
Quellen
1 Rust P, et al.: Österreichischer Ernährungsbericht 2017. BM für Gesundheit und Frauen, Wien.
2 Passarelli S et al.: Global estimation of dietary micronutrient inadequacies: a modelling analysis. Lancet Glob Health 2024; 12(10): e1590-e99.
3 Bailey RL, et al.: The epidemiology of global micronutrient deficiencies. Ann Nutr Metab 2015; 66(suppl 2): 22–34.
4 Schmiedel V.: Nährstofftherapie (2019), Thieme Verlag.
5 Gröber U.: Mikronährstoff-Beratung Indikationen (2020), Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart.
Weitere Literatur auf Anfrage